„Fast“ geht vor „fair“

Update: 25. Juni 2020, 15:25 Uhr – offizielles Statement von Mainz 05 durch Dr. Michael Welling am Ende des Blogbeitrags.

Diese bizarre Bundesliga-Saison 2019/2020 neigt sich dem Ende zu. Was passiert zum Ende jeder Spielzeit? Wahlweise frustrierte oder euphorisierte Fans im TV-Bild? Anzunehmen, diesmal allerdings am Tressen statt am Wellenbrecher! Bierduschen auf dem Platz? Pandemie-bedingt vielleicht diesmal eher nicht! Motto-Shirts aus der Marketingabteilung? Definitiv: wahlweise mit dem Konterfei eines Publikumslieblings, der seine Karriere beenden oder woanders fortsetzen wird – oder einem Spruch, der auf die gerade beendete Saison gemünzt ist.

Wir können uns das bildlich vorstellen, wie die Verantwortlichen jeder Marketingabteilung aller Bundesligisten gemeinsam mit einer Kreativagentur spätestens ab dem 30. Spieltag an einem entsprechenden Konzept tüfteln. Wenn jenes Ereignis eintritt, dann zieht Plan A. Tritt es nicht ein, greift Plan B etc.

Mainz 05-T-Shirts mit Bezug auf Menschenrechte gab es auch in der Vergangenheit – damals waren Fair Fashion und Fast Fashion allerdings den wenigsten Protagonisten bekannt. Das sollte sich mittlerweile geändert haben.

Dieses Jahr ist ja wie schon geschrieben alles ein wenig anders. Dass die Zuschauer im Stadion fehlen, ist nicht nur bei diesem Thema Nebensache. Verkaufsmöglichkeiten gibt es ja auch außerhalb des Stadions genug. Umgekehrt kann das natürlich wunderbar thematisiert werden. Dieser Ball wurde auch von Mainz 05 bereits vor dem Spiel gegen Werder Bremen aufgegriffen. Ansonsten hätten sich die Spieler und Verantwortlichen das diesjährige Motto-Shirt nicht unmittelbar nach dem Abpfiff überstreifen können. Auf diesem sind die Aussagen abgedruckt, dass acht Meistertitel in Folge „langweilig“, elfmal den Klassenerhalt am Stück sichern „Mainzer Weltklasse“ und pandemiebedingt einmal kein gemeinsames Feiern durchzuziehen „schmerzhaft“ sei. Den großen Bayern mal als kleines Mainz mit Humor ans Bein zu pinkeln ist närrische Tradition – klein gegen groß – und daher meiner Meinung nach absolut in Ordnung. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Das soll hier, anders als in den sozialen Netzwerken, aber gar kein Thema sein.

Dass es dieses T-Shirt nicht unmittelbar nach dem Abpfiff online und ab Montag dieser Woche im Fanshop zu erwerben gab, macht die Aktion noch sympathischer. Ich möchte nicht wissen, wieviele T-Shirts in hohen Chargen in eben beschriebenen Brainstormings zwischen Marketing-Leuten und Kreativen entworfen und produziert wurden, um sie, nachdem Plan A nicht eingetreten war, klammheimlich in der Tonne zu entsorgen. Mainz 05 ging hier einen anderen Weg. Der Verkauf startete erst am Dienstagabend dieser Woche über die verschiedenen Vertriebskanäle mit dem Hinweis, dass es sich um eine Vorbestellung handeln und diese spätestens zum 5. Juli 2020 in den Versand gehen würde. Das ist mehr als löblich. Es wird quasi nur die Menge produziert, für die eine Nachfrage besteht. Nachhaltig ist dieses Handeln aber dennoch nicht.

Ob Baumwolle konventionell oder bio angebaut wird, macht für die Menschen vor Ort, z.B, in Indien, einen großen Unterschied. Der Preisunterschied in Deutschland ist jedoch sehr gering.

Um wirklich nachhaltig produzierte T-Shirts herzustellen, ist nicht nur der gerade genannte ökonomische Aspekt zu betrachten. Es geht auch um ökologische und soziale Dinge. Diese Punkte wurden leider nicht beachtet. Beim Anbau von Bio-Baumwolle wird u.a. auf den Einsatz von Pestiziden und Herbiziden zur Bekämpfung von Schädlingen und „Unkraut“ verzichtet. Wir alle machen uns Gedanken ums Insektensterben. Da sind Baumwollplantagen, die mit Insektiziden bearbeitet werden, der falsche Ansatz. Um die Böden vor dem Auslaugen zu schützen, werden Biobaumwollfelder in Form einer Mischkultur betrieben. Alternativ wird die so genannte 3-Felder-Wirtschaft genutzt. Ziel des Bio-Baumwollanbaus ist es auch immer, dass die Kleinbauern möglichst autonom arbeiten. Im konventionellen Anbau sind diese durch den Kauf von Dünger, gentechnisch verändertem Saatgut und den genannten Chemie-Keulen von Dritten abhängig. Dieser soziale Aspekt ist der dritte Baustein, wenn es um nachhaltiges Wirtschaften geht. Denn mit der Ernte der Baumwolle durch unabhängige Kleinbauern ist es ja nicht getan. Diese muss verarbeitet und das T-Shirt genäht werden. Labels wie der „Global Organic Textile Standard“ „Faitrade“ oder der „Blaue Engel“ sorgen dafür, dass entsprechende Ware zertifiziert und für uns Verbraucher eindeutig als ein Produkt identifiziert wird, das unter Bedingungen hergestellt wurde, die sich deutlich von dem „Standard“ unterscheiden, die bei der konventionellen Produktion von T-Shirts angewendet wird.

Bei fairem Handel wird auf die Wahrung von Menschen- und Arbeitsrechten geachtet. Es geht um das Recht, Gewerkschaften zu gründen, Arbeitssicherheit, Vermeidung von Diskriminierung, humane Arbeitszeiten und existenzsichernde Löhne (und nicht nur Mindestlöhne, wie beim staatlichen Label „Der grüne Knopf“). Kinderarbeit ist natürlich auch ein No Go. Für dieses Handeln wurde der Begriff „Fair Fashion“ etabliert.

Aus gutem Grund hat sich Mainz 05 entschlossen, mittlerweile viele Produkte im Fanshop anzubieten, die „Fair Fashion“-Kriterien entsprechen. Das ist mehr als vorbildlich. Umso weniger verständlich finde ich es allerdings, dass bei der Produktion des Saisonabschluss-T-Shirts genau auf solche Kriterien kein Wert gelegt wurde. Statt auf „Fair Fashion“ wurde bei diesem T-Shirt auf „Fast Fashion“ gesetzt. Die Gunst der Stunde, sprich der Nichtabstieg, sollte dazu genutzt werden, dass die Fans aus einem Impuls heraus das T-Shirt kaufen. Dabei muss das T-Shirt möglichst günstig sein, damit die Hemmschwelle zum Konsum recht niedrig liegt. Ein fair gehandeltes Shirt aus Bio-Baumwolle wäre sicherlich nicht für 10 Euro in den Verkauf gegangen. Aber hat es ein Verein wie Mainz 05 tatsächlich nötig, alles „mitzunehmen“ was geht? „Fast Fashion“ first, „Fair Fashion“ second. Ist das Leben der Bäuerinnen und Bauern, der Näherinnen und Näher nur etwas mehr wert, wenn es in den Rahmen eines Marketingplans passt?

#Whomademyclothes – mit diesem Hashtag fordern immer mehr Menschen Informationen zu den Bedingungen, unter denen die eigene Kleidung z.B. in Bangladesch hergestellt wurde.

Schließlich befindet sich auf dem Shirt auch noch das Hashtag #BLACKLIVESMATTER (BLM). „Schwarze Leben zählen“ steht also auf dem Shirt. Ohne dieses Hashtag der internationalen Bewegung, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze Menschen einsetzt, wären die oben geschriebenen Absätze ein hehres Ziel gewesen. Dem muss sich ein Verein natürlich nicht verschreiben. Wenn der Verein allerdings auf seiner Seite in der Rubrik „Engagement“ das Kapitel „Mainz 05 hilft e.V.“ führt, in dem vom „karitativen Verein des Fußball-Bundesligisten“ die Rede ist, dann sollte es schon eine Rolle spielen, unter welchen Bedingungen ein Shirt produziert wurde – gerade wenn man Menschenrechte thematisiert. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Schwarze Leben zählen –  richtig so. Aber zählt das Leben bzw. die Bedingungen derjenigen, die das Shirt produziert haben, nicht genausoviel? 

Damit ist aber immer noch nicht geklärt, was die Aussage BLM auf dem Shirt zu suchen hat. Sie hat weder etwas mit der Meisterschaft der Bayern, noch mit dem Klassenerhalt oder dem nicht möglichen Feiern mit den Fans zu tun. Wieso steht es trotzdem auf dem Shirt? Entweder, um dem Zeitgeist und somit den „Fast Fashion“-Kriterien zu entsprechen. Das Hashtag gilt gerade als trendig, obwohl es die Bewegung bereits seit 2013 gibt. Ich kann mich nicht erinnern, dass es BLM schon einmal in der Vergangenheit auf ein Shirt von Mainz 05 geschafft hat. Oder es wird auf einen Teil der Spieler von Mainz 05 Bezug genommen. Da wäre dann allerdings eine sehr ungeschickte Brücke zur Hautfarbe geschlagen worden. Welche Hautfarbe Spieler von Mainz 05 haben, ist wahrscheinlich nahezu allen Fans und Mitgliedern egal. In dieser Saison haben den Klassenerhalt wieder mehr als 20 am Ball begabte Jungs hinbekommen – fertig (und gut so).

Gerade beim Fußball soll doch die Hautfarbe vollkommen egal sein. Sie bedeutet in der Kommunikation aber immer ein Ritt auf der Rasierklinge. Wie ich schon in meinem Blog „Aufräumen im eigenen Kopf“ schrieb, ist es quasi unmöglich, nicht in rassistische Denkmuster zu verfallen, wenn man von Rassismus selbst nie betroffen war. Erst neulich hat sich ein Mensch an der Hautfarbe einiger Spieler gestört und seine Mitgliedschaft bei Mainz 05 gekündigt. Der Verein hat diese Kündigung begrüßt und seine Antwort auf die Kündigung veröffentlicht. Das fand bundesweit fast durchweg eine positive Resonanz. Ein paar Tage später stellte der Verein einen Cartoon online, in dem Schwarze Menschen in einem Ruderboot zu sehen waren. Dem Verein wurde in den sozialen Netzwerken sofort Rassismus unterstellt. Dass man mit den rudernden Mainz 05-Spielern aus dem Cartoon Flüchtlinge im Mittelmeer assoziieren kann, liegt auf der Hand. Zum Glück hat der Verein den Cartoon sehr schnell wieder offline gestellt.

Was den Verein letztlich dazu gebracht hat, den Hashtag abzudrucken, bleibt sein Geheimnis. Bei der Beschreibung des T-Shirts im Online-Shop wurde darauf nicht eingegangen. Auch im Statement zum Klassenerhalt vom Mittwoch wird kein Bezug auf das Hashtag genommen. Es hat fast den Anschein, dieses wird gegenwärtig wie ein Claim analog zu „Unser Traum lebt“ verwendet. Wortpiratin Mara hat dem Verein in ihrem Blogbeitrag für die AZ, den Ratschlag erteilt, er möge sich bei solchen Themen sensibilisieren, u.a. durch eine hohe Diversität bei den Mitarbeiter*innen. Vielleicht hätten diese tatsächlich entsprechende Bedenken geäußert und dazu geraten, auf das Hashtag zu verzichten und das Shirt lieber „fair“ als „fast“ zu produzieren. Auf ein paar Tage mehr beim Versand und eine geringere Absatzmenge aufgrund eines höheren Preises wäre es da sicherlich nicht angekommen – auf ein lebenswerteres Leben in Indien oder Bangladesch aber schon, das mit der Verwendung von fair gehandelten Shirts aus Biobaumwolle ermöglicht worden wäre. Und ein passendes Hashtag hätte ebenfalls abgedruckt werden können: #Whomademyclothes  

Offizielles Statement von Mainz 05 durch Dr. Michael Welling:

„Lieber Christoph, Danke für den spannenden Blogbeitrag und die Sensibilisierung für das wichtige Thema. Wie Du weißt, ist es uns wichtig, dass wir bei unseren Merchandising-Artikeln eine hohe Sensibilität an den Tag legen. Nicht immer gelingt uns dies. In diesem konkreten Fall ist es aber glücklicherweise so, dass die T-Shirts aus 100% Bio-Baumwolle sind, Ökotex 100, Fairwear und ein Vegan Zertifikat haben. Wir haben das aber nicht transportiert, weil wir nicht sicher sein konnten, dass es in der Kürze der Zeit überhaupt gelingt. Und: Wir können bei solchen Aktions-T-Shirts Stand heute auch nicht garantieren, dass es zukünftig immer gelingt. Auch deshalb haben wir das nicht in den Fokus gerückt.
Bitte begleite uns weiter kritisch, lege den Finger in die Wunde und transportiere das nach außen. Vielleicht sollten wir uns zukünftig direkter austauschen, damit Du die Hintergründe kennst. Komme jederzeit auf uns mit Fragen zu.“

Quellen:

Bio-Baumwollle vs. Nicht-Bio: Das sind die Unterschiede“ – watson

Grüner Knopf: Was taugt das erste staatliche Siegel für nachhaltige Kleidung? – Utopia.de

Fair Trade Kleidung bei Mode und Textilien“ – GREEN SHIRTS

Fast Fashion – Fakten, Ursachen, Folgen & Lösungen“ – CareElite

Wortpiratin: Auch im Fußball gilt: „Check mal Deine Privilegien“!“ – Allgemeine Zeitung Mainz

Bilder: Pixabay, privat

Aufräumen im eigenen Kopf

Eigentlich ist rein biologisch gesehen alles ganz einfach. Wir sind irgendwann auf diesem Planeten geboren worden. Diese Gemeinsamkeit haben wir alle auf unserer Erde. Die zweite Gemeinsamkeit: Irgendwann gehen bei uns allen die Lichter wieder aus.

Das war es allerdings mit den Gemeinsamkeiten auch schon. Das, was zwischen Geburt und Tod liegt, nennen wir bei Pflanzen, Tieren und Menschen Leben. Das Leben der Pflanzen und der Tiere klammere ich dieses Mal bewusst aus, obwohl es natürlich angebracht ist, diese Lebewesen zu respektieren, zu schützen und sich für sie einzusetzen – alleine schon deswegen, damit wir und unsere Nachkommen eine lebenswerte Welt vorfinden.

Wir Menschen sind bei der Geburt alle gleich. Kein Kind kommt mit einer implementierten Kreditkarte ohne Limit oder einer eingeimpften Staatsbürgerschaft auf die Welt. Wir alle erblicken mehr oder weniger auf dieselbe Art und Weise das Licht der Welt. In eben jenem Moment allerdings gelten bereits Konventionen, die nicht natürlich sind, sondern von Menschen festgelegt wurden.

Welchen Sechser die meisten von uns im „Geburtslotto“ hatten, ist uns sicher nicht immer bewusst. Als Deutsche Staatsbürger haben wir seit unserer Geburt zahlreiche Privilegien, die uns in die Wiege gelegt wurden – ohne unser Zutun. Wir hätten auch Staatsbürger eines der anderen fast 200 Länder dieser Welt werden können. In den meisten Fällen wäre damit der Start ins Leben wahrscheinlich schwieriger ausgefallen. Das fällt mir aktuell wieder ein, da wir uns aufgrund der Pandemie in einer Ausnahmesituation befinden: Als Deutsche haben wir eine Bewegungsfreiheit ohne Gleichen. Wir können die meisten Ziele dieser Welt besuchen, ohne begründen zu müssen, warum wir uns dorthin begeben möchten. Länder, Grenzen, Staatsbürgerschaften sind nicht einfach so vom Himmel gefallen. Manche Ländergrenzen wurden von Menschen mit dem Lineal gezogen. Für die meisten Menschen auf unserer Welt ist das Passieren einer Grenze ein Ding der Unmöglichkeit. Die älteren unter uns können sich noch an die innerdeutsche Grenze erinnern. Wollte man sich von Thüringen nach Bayern begeben, war das bis 1990 womöglich ein Todesurteil. Das ist gerade mal 30 Jahre her – doch im Vergessen und Verdrängen liegt eine unserer Kernkompetenzen. Möchten Menschen ihren aktuellen Wohnsitz verlegen, z.B. von Aleppo nach Mainz, dann scheitert das nicht daran, dass ein Ozean dazwischenliegt, sondern daran, dass wir Menschen Grenzen gezogen haben, die das verhindern. Ich durfte diese 1995 in umgekehrter Richtung relativ einfach passieren. Als Deutscher konnte ich mit dem Zug problemlos nach Österreich fahren. Ich bekam ein Visum für Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgestellt. Die Türkei ließ mich mit dem deutschen Pass ohne zusätzlichen Papierkram einreisen und auch für Syrien bekam ich, dem Bundesadler auf dem Pass sei Dank, das Visum problemlos ausgestellt. Ich galt als Tourist – jemand, der aktuell die umgekehrte Route mit einem syrischen Pass nimmt, gilt als Flüchtling. Definiert haben das Menschen – nicht Mutter Natur. Selbstverständlich wollte ich nur ein paar Tage in Syrien bleiben und umgekehrt möchte jemand, der bei uns Schutz sucht, so lange bleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Es geht bei dem Beispiel einfach darum zu zeigen, dass ein Stück Papier einen großen Unterschied macht – obwohl die Menschen biologisch gesehen nichts unterscheidet.

Voneinander lernen, wie hier in Sierra Leone, ist vielleicht das beste Mittel gegen Rassismus.

Kommen wir in Deutschland auf die Welt, ist die Chance relativ hoch, die ersten Tage zu überleben. Die Kindersterblichkeit ist weltweit von Land zu Land unterschiedlich. In Singapur, Island, Japan, Monaco und Slowenien liegt sie bei 2 Todesfällen pro 1000 Lebendgeborene, bei uns in Deutschland bei 3 und im Tschad bei 72, im Niger bei 79, in der Zentralafrikanischen Republik bei 84, in Somalia bei 93 und in Afghanistan bei 109. Natürlich herrscht in den letztgenannten Ländern ein anderes Klima. Das ist sicherlich noch nicht menschengemacht (wird es aber zunehmend, wenn uns Tiere und Pflanzen weiter egal sind). Die hohe Kindersterblichkeit liegt darin nicht begründet. Vielmehr ist sie darauf zurückzuführen, dass in all diesen Ländern Bürgerkriege die letzten Jahrzehnte geprägt haben. Diese Kriege sind kein Gesetz der Natur, sondern wurden von Menschen vom Zaun gebrochen. Die Gründe liegen teilweise einhundert Jahre zurück – z.B. in der willkürlichen Grenzziehung nach dem ersten Weltkrieg. Sofern wir jünger als 75 sind, ist die Chance relativ groß, dass wir noch nie einen Krieg miterleben mussten. Dass seit 1945 in Mitteleuropa Frieden herrscht, sehen wir oft als „natürlich“ an. Auf meiner Reise 1995 nach Syrien musste ich mich in Budapest entscheiden, ob ich über Belgrad oder Bukarest nach Istanbul reisen wollte. Niemand konnte mir in meinem Mainzer Reisebüro sagen, wie ich auf dem Landweg in die Metropole am Bosporus gelangen konnte. Daher besaß ich auch ein Visum für Rest-Jugoslawien. Von einer Reise dorthin wurde mir aber damals vom Auswärtigen Amt mittels der mittlerweile bekannten Reisewarnung abgeraten – weil in dieser Region gerade Krieg herrschte – eine Tages- und Nachtzugfahrt von Mainz entfernt. Das ist gerade mal 25 Jahre her und geographisch gesehen ebenfalls nicht sehr weit weg von uns.

Sprich – auf das Timing der Geburt kommt es an. Vor 1945 in Deutschland geboren worden zu sein, war nicht der oben genannte Sechser im Lotto. Und vor 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik geboren worden zu sein, vielleicht auch nicht. Ich schreibe „vielleicht“, weil ich es nicht miterlebt habe, das Leben in der DDR. Allerdings habe ich, seit ich denken konnte, mit dem Wort „DDR“ etwas assoziiert. Ich habe im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung über dieses Land etwas erfahren. Gespräche in der Familie über die DDR gab es kaum, weil wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Durch all die Einflüsse hat sich in meinem Kopf ein Bild der DDR geprägt. Es zeigt, dass ich nicht unvoreingenommen dieser DDR gegenübertrat. Ich habe Staatsbürger der DDR vor der Wende meines Wissens gar nicht getroffen. Trotzdem hatte ich mir ein Bild gemacht und in meinem Hirn etwas zu „DDR“ und den Menschen, die dort lebten, „abgelegt“.

Die Festung in Dakar, Senegal ist ein Relikt des Sklavenhandels – von hier wurden Schwarze Menschen nach Amerika verschifft. Der Spruch auf der Stehle blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.

Neben der „richtigen“ Staatsbürgerschaft und dem „richtigen“ Timing gibt es einen weiteren Faktor bei der Geburt, der den Start ins Leben massiv beeinflusst. Die bereits angesprochene imaginäre „implementierte Kreditkarte“ ohne Limit. Vor dem Gesetz sind wir Menschen in Deutschland alle gleich. Doch bei der Geburt entscheidet sich schon manchmal der gesamte Lebensweg. Qua Geburt sind wir bereits Erben. „Die Bundesrepublik gehört immer noch zu den OECD-Staaten, in denen der Schulerfolg eines Kindes deutlich enger vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt als in vielen anderen Ländern, sagt Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor.“ (Spiegel, vom 23.10.18) . Will sagen dass der Schulerfolg bei uns sehr wohl davon abhängen kann, ob man in eine finanziell gut ausgestattete Familie, bei der die Eltern Akademiker sind, hineingeboren wird, oder ob man in einer Familie aufwächst, die nicht so viel Kohle hat und in der die Eltern womöglich kein Abitur gemacht haben. Es macht auch einen Unterschied, mit welchem Geschlecht wir auf die Welt kommen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein hehres Ziel aber noch lange nicht erreicht.

Mit den bisherigen Zeilen wollte ich ausdrücken, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass wir so ein Leben führen, wie wir es aktuell führen – im Positiven wie im Negativen. Die Liste der oben genannten Beispiele ist sicher nicht abschließend. Jeder von uns hat Probleme und das Leben stellt uns jeden Tag vor neue Herausforderungen – das gilt für alle Menschen weltweit. Vielleicht haben die Beispiele gezeigt, dass es Wert ist, die eigene Situation neu zu betrachten. Durch den Ausbruch von Corona hat sich das Leben von uns allen verändert. Wir mussten in unserem Alltag Änderungen notgedrungen vornehmen. Wir haben aber auch gelernt, uns und andere zu schützen. Wir haben als Gemeinschaft gezeigt, dass wir bereit sind zu lernen, dass wir Änderungen in unserem Verhalten vornehmen können.

Wir können die Welt in ihrer Gesamtheit nicht „retten“. Wir können uns für die Schwachen der Gesellschaft engagieren, für die Gleichstellung der Geschlechter, für faire Arbeitsbedingungen, für das Klima und die Natur u.v.m. Das ist alles löblich und ich habe großen Respekt vor den Menschen, die sich jeden Tag dafür einsetzen, dass die Welt einen Tick „besser“ wird.

Ich erwarte so ein Engagement von Menschen für andere nicht – gerade weil viele Menschen auch in Deutschland große Probleme haben. Natürlich haben die eigenen Probleme Priorität. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir jeden Menschen nach seinem Handeln und Denken beurteilen sollten – nicht nach Staatsbürgerschaft, Alter, Geschlecht oder finanziellem Hintergrund. Aber das ist leider die graue Theorie. Schließlich gibt es da noch etwas, was uns Menschen unterscheidet: Die Hautfarbe.

Wenn man wie ich Rassismus nie erlebt hat, ist es fast unmöglich, nicht selbst das eine oder andere Mal in rassistische Denkmuster zu verfallen. Wer die bisherigen Zeilen gelesen hat, beweist Ausdauer. Diese Ausdauer kostet Zeit. Diese ist meiner Meinung auch notwendig, um „Rassismus [zu] entlernen“, wie Aminata Touré, Landtagsvizepräsidentin in Schleswig-Holstein sagt. Wir sollten „entlernen“, vielleicht sogar unbewusst, rassistisch zu agieren. Wir sollten Zeit investieren, um Artikel von Menschen zu lesen, die selbst von Rassismus betroffen sind und anschaulich beschreiben, wie Rassismus unterschwellig in unserem Alltag vorkommt – oft ungewollt und nicht so platt, dass jede*r bemerkt, um was es sich da gerade handelt. Ferner ist die Bereitschaft notwendig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das einen selbst gar nicht unmittelbar betrifft.

Ich habe die vorletzte Woche den Text von Alice Hasters im Deutschlandfunk gelesen „Warum weiße Menschen so gerne gleich sind“. Sie zeigt zahlreiche Ansätze auf, mit denen wir unser eigenes Denken und Handeln hinterfragen können. Zunächst einmal geht es um die Definition von Rassismus. Sie zitiert den amerikanischen Rassismusforscher Ibram X. Kendi, der Rassismus als „Jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet.“ definiert.

Diese Definition muss nach Hasters Meinung allerdings konkretisiert werden. Auf meinen Reisen durch Westafrika konnte ich an vielen Stellen koloniale Spuren des Rassismus an den Küsten des Senegals und Benins entdecken. Hier sind hunderttausende Schwarze Menschen verschifft worden, um in Amerika als Sklaven zu arbeiten. Organisiert wurde der Handel von Weißen, die sich den Schwarzen Menschen schlicht überlegen fühlten. Sie konstruierten „Rassen“ aufgrund der Hautfarbe. Daher ist die aktuelle Diskussion um das Entfernen des Wortes „Rasse“ aus dem Grundgesetz auch so wichtig – es gibt schlicht keine unterschiedlichen Rassen von Menschen. „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ stellt die Deutsche Zoologische Gesellschaft in ihrer Jenaer Erklärung fest.

Eine „Norm“ bei Menschen aufzustellen ist abwegig. Daher kann der weiße Mensch auch keine Norm sein.

 „Weiße Menschen haben die Theorie etabliert, dass Charaktereigenschaften, kulturelle und soziale Fähigkeiten mit biologischen Merkmalen zusammenhängen. Dieses System nennt sich White Supremacy – Weiße Vorherrschaft.“ so Hasters. Dieses Denken wurde in den letzten Jahrhunderten etabliert. Sklavenhandel wurde mit der Zeit weltweit fast überall verboten und auch der Kolonialismus ist seit nunmehr 50 Jahren mehr oder weniger passé. Doch es kommt auf das Denken und Handeln von uns an. Papier ist geduldig. Wir sollten uns selbst fragen, ob wir auf einen uns unbekannten Schwarzen Menschen, der uns begegnet, genauso reagieren, wie auf einen Weißen. Es muss unerträglich sein, jeden Tag auf der Straße anders angeschaut zu werden, als andere Mitbürger*innen. Hasters beschreibt diese so genannte „Mikroaggression“ als „Mückenstiche“. Wie die Reaktion auf Schwarze Menschen ausfällt ist ihrer Meinung nach zunächst unerheblich. „Rassismus ist nicht erst Rassismus, wenn er böse gemeint ist“. Dabei geht es auch um vermeintliche Komplimente, wenn Leute in ihre Haare fassen möchten, weil diese „anders“ sind. Das Aufstellen einer Norm (weißer Mensch ohne Kraushaar) wirkt auf Schwarze Menschen ausgrenzend. 1999 war ich mit einer blondhaarigen Freundin in Westafrika unterwegs. Viele Kinder sind vor ihr weggerannt, weil sie einen Menschen mit blonden Haaren noch nie gesehen haben. Wir haben das damals als lustig empfunden, gerade auch weil die Erwachsenen gelacht haben und die Situation dazu einlud, ins Gespräch zu kommen. Aber wenn tagtäglich Menschen vor mir eine solche Reaktion zeigen, kann ich die von Hasters erwähnten „Mückenstiche“ nachempfinden.

Wenn ich bisher gefragt wurde, warum ich so oft nach Afrika gefahren bin, habe ich meist geantwortet, der wunderschönen Natur aber auch der Menschen wegen. Ich habe bei den Schwarzen Menschen verallgemeinert: Coolness, Lebensfreue, Gelassenheit – das waren manche der Attribute, die ich mit den Menschen in Afrika assoziiert habe. Nach Hasters ist das auch eine Art Rassismus, den ich da an den Tag gelegt habe – was ich mittlerweile nachvollziehen kann. Schließlich wird nicht jeder Mensch Afrikas die genannten Attribute verkörpern.

Hasters geht auch auf die Argumentation ein, dass manche Menschen „keine Hautfarben sehen würden“. Sie ist der Auffassung, dass diese Leute nicht in der Lage sind, Rassismus zu erkennen. Spätestens da sind wir an dem Punkt angelangt, dass es notwendig ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Daher ist meiner Meinung neben Empathie auch Vertrauen notwendig. Vertrauen gegenüber Menschen, die sich rassistisch angegangen fühlen. Das machen diese Menschen nicht, um Aufmerksamkeit für sich zu erhaschen, sondern um auf eine Situation aufmerksam zu machen, die bei näherer Betrachtungsweise naheliegt. Diese Menschen haben ein Recht darauf, dass dieses Problem angegangen wird.

Attribute Menschengruppen generell zu verpassen kann auch Rassismus sein – jeder Mensch reagiert anders auf diese Verkehrssituation in Cotonou, Benin. Coolness, Gelassenheit etc. empfindet hier sicher jeder von uns anders.

Ein weiterer Punkt, den ich mir selbst in der Debatte anlasten muss, ist das N-Wort (wahlweise auch das Z-Wort in Bezug auf Sinti und Roma), das immer noch in der Kinderliteratur Verwendung findet. Selbst nie mit Rassismus konfrontiert habe ich mir über dieses nie wirklich Gedanken gemacht, bis ich von guten Freund*innen vor ein paar Jahren darauf hingewiesen wurde. Hasters reagiert auf das N-Wort ziemlich souverän, da sie sich in Menschen wie mich hineinversetzt, die sich damit bisher nicht auseinandergesetzt haben. „Es ist das eine, Rassismus zu reproduzieren, weil man ihn nicht erkennt. Es ist etwas anderes, Rassismus zu reproduzieren, weil man die Perspektiven anderer Menschen nicht anerkennt.“. Sobald man dies allerdings erkennt und sich dennoch nicht gegen die Streichung des N-Wortes einsetzt, handelt man rassistisch. Auch dieser Aspekt hat mir zu denken gegeben.

Wir Menschen neigen oft dazu, Sachen aufzuwiegen. Ich gehe gar auf „Whataboutism“ ein, sondern bleibe beim Rassismus. Man könnte schließlich der Meinung sein, als weißer Mensch in Afrika ebenfalls von Rassismus betroffen zu sein, wenn ich dort zum Beispiel mehr für den Bus bezahlen musste als die Einheimischen. Hasters erkennt hier eher die Privilegien, die ich als Weißer habe, der dort als reich und höhergestellt gilt. Sie erkennt an, dass diese Erfahrungen nicht unbedingt positiv sind – es wird mir als weißem Menschen aber tatsächlich nicht unterstellt, dass ich kriminell oder sonstwie bedrohlich sei. Das genannte Beispiel mit dem Bus kann ärgerlich sein, hat aber tatsächlich nichts mit Rassismus zu tun. Es ist eher die Folge des Rassismus, da durch die Ausbeutung der ehemaligen Kolonien durch die Weißen, die „Norm“ entstand, dass Weiße reich und Schwarze Menschen arm sind.

Ein Privileg von Weißen ist es Rassismus zu ignorieren. Hasters schreibt „Die Anerkennung meiner Perspektive ist kein Selbstverständnis, sie ist ein Kampf.“. Und dass Schweigen nichts bringt, wissen wir alle. Wenn rassistische Sätze fallen, dann sollten wir das auch äußern. Fangen wir damit im Bekanntenkreis an: in der Familie, auf der Arbeit, in der Kneipe und hoffentlich bald auch wieder im Stadion.

Es sei denn, es ist uns egal, wie wir Menschen miteinander umgehen. Dann hätte es aber auch nichts gebracht, diesen langen Text zu lesen. Einfach einmal sein eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen kostet kein Geld. Und zu versuchen, andere Menschen ausschließlich nach deren Denken und Handeln zu beurteilen auch nicht. Dieses Aufräumen im Kopf tut letzten Endes auch mir persönlich gut. In den letzten Jahrzehnten konnte ich mir auch ein Bild von Menschen aus der ehemaligen DDR machen, da ich glücklicherweise nach der Wende viele kennengelernt habe. Das pauschale Bild der DDR, das ich in meinem Kopf hatte, habe ich damit auch ersetzen können – durch einzelne Menschen, die ich nach ihrem Denken und Handeln beurteile.  

Quellen:

Rassismus – Grünen-Politikerin Touré: „Wir müssen Rassismus entlernen“ – Gesellschaft – SZ.de

Identitäten (7/7) – Warum weiße Menschen so gerne gleich sind – Deutschlandfunk

DZG2019 – Jenaer Erklärung – Deutsche Zoologische Gesellschaft e.V.