Wir schreiben den 23. Dezember 2021 – ein Tag, der für viele von uns immer mit der Auswärtsfahrt nach Sinsheim verbunden sein wird. Nicht wegen des Spielverlaufs, nicht wegen des Ergebnisses, sondern wegen der Geschehnisse im Gästeblock. Auch letztes Jahr blickte ich auf diesen Tag in einem Blogpost zurück und schrieb damals „der Gästeblock stimmte plötzlich den Klassiker von „Wham!“ an. Smartphones wurden hochgereckt, nicht um Bilder zu machen, sondern um dem Gesang einen passenden visuellen Rahmen zu geben. Es entstand eine ganz besondere, besinnliche Stimmung, die sicherlich viele der Auswärtsfahrer*innen mit zurück nach Mainz in die Weihnachtsfeiertage nahmen.“
Als ich diese Zeilen 2020 schrieb, war der allgemeine Gemütszustand eher semi gut. Ich formulierte damals „Sportlich gesehen läuft es bei Mainz 05 seit Beginn der Geisterspiele mehr schlecht als recht. Das ist ein gefundenes Fressen für die Internet-Fans bei Twitter und Facebook. Da spätestens seit November ohnehin alles was Spaß macht, verboten ist, lässt sich wunderbar von zu Hause aus dozieren, dass Mainz 05 stirbt, alle rauszuwerfen sind und sich die Spieler tatsächlich noch im Streik befänden.“ Und weiter „Mainz 05 spielt immer noch in der 1. Liga und steigt vielleicht im nächsten Jahr ab. Es gab schon andere Clubs, denen das passiert ist. Klar ist das eine suboptimale Aussicht, gerade auch weil Rouven Schröder hingeworfen hat. Aber wer sind wir? Und welche Messlatte legen wir an den Tag, wenn Brauseclaubs, Sinsheim-Scheichs und Konsorten immer mehr das Bild der Liga prägen? Eine Dauerkarte für Nullfünf in der 1. Liga? Und wie ergeht es einem Club auf Augenhöhe wie Freiburg? Der war auch schon zwischenzeitlich mal abgestiegen – und hat noch nicht mal Christian Streich gestrichen. Von Vereinen wie Darmstadt, Düsseldorf, Bielefeld mal ganz zu schweigen, die sogar bis in die 3. oder 4. Liga durchgereicht wurden und bekanntlich auch noch am Leben sind.“
Vor einem Jahr gab es noch keine Impfungen und Schnelltest für alle waren ein Fremdwort, Restaurants geschlossen und touristische Übernachtungen verboten. Man kann schon sagen, dass es damals ziemlich düster aussah – auch abseits des Platzes.
Heute, ein Jahr später, nahm der Verein diese Szenerie auf und ließ in der Stadt Plakate mit dem „neuen Trainer Bo“, einem Herzen in der Hand und „Last Christmas I gave you my heart“ aufhängen. Das Land legt gerade ein ziemliches Impftempo an den Tag, wir können uns, obgleich vielleicht sogar schon geboostert, trotzdem vor dem Familientreffen easy testen lassen, ins Restaurant gehen und im Hotel übernachten. Aber für uns vielleicht das größte Geschenk – wie letztes Jahr: Nullfünfer:in zu sein.
Wir können heute mit großer Dankbarkeit auf die Entwicklungen nach dem Pokalheimspiel gegen Bochum vor einem Jahr zurückblicken. Es gab so viel Positives, angefangen mit den Änderungen im sportlichen Verantwortungsbereich. An dieser Stelle trotzdem nochmals ein großes Dankeschön an Rouven Schröder, der ja weit über seine Funktion in den Monaten zuvor überall einspringen musste – diesen Job teilen sich jetzt mit Christian Heidel und Martin Schmidt gleich zwei Personen. In der Jahrestabelle steht der Verein mit 57 Punkten auf Platz 7. Mehr muss ich glaube ich dazu nicht schreiben, denn die sportliche Entwicklung ist allseits bereits gewürdigt worden.
„Aber die Spieler sind, egal welche Leistung sie bringen, doch nicht das Herz des Vereins, das dafür sorgt, dass der Verein lebt. Der Verein lebt durch seine Fans und Mitglieder*innen.“ schrieb ich am Ende meines Textes letztes Jahr. Unser Verein hat auch in diesem Jahr wieder gezeigt, wie lebendig er ist.
Am 28. März legitimierte die Mitgliederversammlung das Leitbild des Vereins. Ein großes Dankeschön an alle, die an dessen Ausarbeitung beteiligt waren. Dieses Leitbild wurde nicht von außen herangetragen, sondern sind das Ergebnis von Diskussionen der AG Identifikation der Fanabteilung. Es ist so etwas wie das „Grundgesetz“, auf dem wir uns alle innerhalb des Vereins bewegen.
Überhaupt die Fanabteilung – kurz nach dem Klassenerhalt wurde im Mai eine neu AG „Vereingeschichte“ gegründet. Und das obwohl wir ja gar keine Tradition haben!. Und es war die Fanabteilung, die direkt nach der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal und Umgebung Sachspenden sammelte. Bis heute engagieren sich Leute aus dem Umfeld des Vereins dort und helfen beim Wiederaufbau – Respekt! Und „Das Gänsje packt mit an“ hieß es kurz darauf in den Sozialen Netzwerken nach dem Start der Initiative durch die Supporters Mainz. Insgesamt kamen über 26.000 Euro zusammen, die dem Mehrgenerationenhaus in Bad Neuenahr-Ahrweiler im Herbst symbolisch übergeben wurden.
Konnten wir den (Weg zum) Klassenerhalt auch nicht im Stadion feiern, gab es weitere Institutionen, die auch in Zeiten der Geisterspiele für uns immer da waren, das Fanprojekt zum Beispiel, das über Telefon, E-Mail, Video und Social Media sowie im persönlichen Einzelgespräch immer ein offenes Ohr für Hilfesuchende hatte.
Kaum zu glauben aber wahr, wir konnten ab August tatsächlich auch wieder ins Stadion gehen. Die Auswärtswart nach Elversberg war ein großes Wiedersehen mit vielen bekannten Nasen und den Fanbeteuer:innen, die sicherlich genauso erfreut waren, wie wir mitgereisten Fans, dass es wieder losgehen konnte.
Hatte ich vorher noch befürchtet, dass der Stadionbesuch einher gehen würde mit Stehplatzverbot und Sperrungen des Gästeblocks waren die tatsächlichen Bedingungen meiner Meinung nach absolut ok. Weniger ok waren die Schmähungen, die spätestens beim Hertha-Spiel echt peinlich wurden. Leider fehlt ohne organisierten Support da ein Korrektiv, das das nach ein paar Sekunden in Mainz immer unterbunden hat.
In der Stadt Gutenbergs wurde auch während der Geisterspiele fleißig in die Tasten gehauen. Es sind viele tolle neue Ausgaben von Fanzines in diesem Jahr herausgebracht worden. Chapeau! Und ein neues Mainz 05-Buch hat es auch in die Regel des Buchhandels geschafft. „Mainz 05 – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ von Wortpiratin Mara Pfeiffer, die jüngst vom Medium Magazin als Nummer 3 der Sportjournalist:innen des Jahres ausgezeichnet wurde. In der Begründung heißt es „Sie interessiert, wie der Sport mit anderen gesellschaftlichen Bereichen vernetzt ist. Dabei scheut sie sich auch nicht, den Finger in Wunden zu legen. So zum Beispiel bei den Recherchen zu patriarchalen Strukturen in Sportverbänden oder den Umgang mit LGBTQIA+-Personen.“ Eine verdiente Auszeichnung, wie ich meine.
Und natürlich gab es auch viel auf die Ohren, was wir den Podcast-Macher:innen der „Hinterhofsänger“ zu verdanken haben. Da ich keine Ahnung vom Spielgeschehen habe und mich lieber mit veganer Stadionwurst beschäftige, lasse ich mir nachkicks gerne von den dreien erklären, was, wieso, weshalb, warum so geschehen ist.
Diese vielen Beispiele und viele Beispiele, die ich jetzt leider vergessen habe, zeigen, dass unser Verein lebt und gut gerüstet ins neue Jahr gehen kann. Natürlich sind die kurzfristigen Aussichten aufgrund der Pandemie nicht wirklich rosig. Mit dem Wissen im Hinterkopf, was wir alle in diesem Jahr mit unserem Verein erlebt haben, dürfen wir, denke ich, dennoch positiv auf 2022 blicken.
Es geht nicht um halbvolle oder leere Gläser. Es geht darum, dass wir gemeinsam erlebt haben, dass Mainz 05 vieles macht, nur nicht untergehen. Dieses Wissen sollte unsere Laune heben und uns das Gefühl vermitteln, welche Fügung es doch war, in diesem Jahr Nullfünfer:in zu sein. „Hoffen wir das Beste für das nächste Jahr, gesundheitlich, sportlich aber auch menschlich – Mainz 05 wird niemals untergehn – weil wir immer einen an der Waffel ham!“ waren die letzten Zeilen meines Blogposts letztes Jahr – das gilt auch für dieses Jahr!