Man könnte ja meinen, dass Fans in den südlicheren Teilen unseres Bundeslands eigentlich nur in der Vergangenheit leben. Allerdings hatten sie 2008 wahrhaftig wahrsagerhafte Fähigkeiten an den Tag gelegt, in dem sie „Mainz du Depp“ proklamierten.
Schließlich läuft im mittlerweile so demütig gewordenen Profifußball moralisch gesehen ziemlich viel falsch. Und was macht Mainz 05? Ist seit längerem schon so richtig „depp“, spätestens seit dem 18. Mai 2019. Da lag man schon 0:2 gegen die TSG aus Ho$$enheim zurück. Damit wären die Kraichgauer für die internationalen Wettbewerbe qualifiziert gewesen und es hätte außerhalb der Stadtgrenze von Sinsheim niemanden interessiert. Und was macht Mainz 05? Brosi schoss in der 66. Minute den Elfer rein (wie immer, hach). Danach gab es noch drei weitere Tore und wer qualifizierte sich stattdessen? Die SGEuropa… der Rest ist bekannt.
Zum Saisonabschluss 2022/2023 ein ähnliches Szenario. Mindestens halb Fußballdeutschland war schon in Feierlaune, da der BVB ja nur noch gegen Nullfünf gewinnen musste, damit der FC Bayern mal nicht Deutscher Meister wird. Und was macht Mainz 05? Spielt tatsächlich Fußball, führt mit 2:0 im Westfalenstadion und erzwingt am Ende einen Punkt in Dortmund. Deutscher Meister wird nur… der Rest ist bekannt.
Was musste sich Mainz 05 von vielen so genannten „Sportsfreunden“ danach anhören? Wie kann es dieser popelige unbedeutende Verein wagen, am letzten Spieltag der Saison, bei dem es für ihn um nichts mehr ging, tatsächlich noch Fußball zu spielen und die schwarz-gelbe Party zu crashen?
Ist zu diesem Zeitpunkt die Welt nicht schon wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine aus den Fugen geraten, dann ist sie es spätestens am 7. Oktober. Was danach passiert ist, ist hinlänglich bekannt.
Ein Spieler von Mainz 05 postet etwas, was in Deutschland den Anfangsverdacht der Volksverhetzung darstellt, da mit den geteilten Sätzen, die Existenz des Staates Israel negiert wird. Und was macht Mainz 05? Es stellt den Spieler zur Rede. Dieser scheint auf seinen Standpunkten zu beharren. Im Anschluss daran wirft ihn Mainz 05 nicht raus, sondern stellt ihn frei. Damit hat der Spieler zumindest theoretisch die Möglichkeit, seine Position zu überdenken, sich einzulesen in die Hintergründe, warum sein Posting in anderen Ländern vielleicht legal, in Deutschland aber ein No Go ist, und zu verstehen, dass man mit der Reaktion auf sein Verhalten aber gleichzeitig nicht die Not der Menschen in Gaza und im Westjordanland ignoriert. Besser als es der Q-Block gestern mit Hilfe von Spruchbändern hinbekommen hat, lässt sich die Situation nicht klarstellen.
Nun ist es in der aktuellen sportlichen Situation bei Mainz 05 ja nicht so, dass ein Überangebot von Spielern im Kader vorhanden ist, die hundertprozentige Chancen einfach mal so reinmachen, wie wir gestern gesehen haben. Und trotzdem handelt der Verein so konsequent, wie die Mannschaft in der Saison 2018/2019 und 2022/2023 auch am letzten Tag einfach ihr Bestes gegeben hat, um das jeweilige Spiel zu gewinnen. Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, also dass der supertolle Nachbar vom Nebenfluss seinen internationalen Höhenflug fortsetzen konnte bzw. die echte Liebe nicht Meister wurden, spielten einfach keine Rolle – genauso wie bei der Freistellung.
Außerhalb von Mainz 05 werden jetzt wahrscheinlich auch wieder viele sagen „Nullfünf du Depp“. Da schwächt sich ein Verein, der nach 7 Spieltagen nur 2 Punkte auf dem Konto hat, in dem er einen Spieler freistellt. Außer dem Zentralrat der Juden haben außerhalb von Mainz auch nicht wirklich viele dem Verein den Rücken in dieser Situation gestärkt.
Ich habe Mainz 05 lange Zeit bei vielen kleineren Themen konsequente Inkonsequenz vorgeworfen. Wenn es aber wirklich drauf ankommt, dann handelt und agiert der Verein konsequent, was das Sportliche aber auch das Juristische angeht. Ich habe auch echt keine Lust, Anhänger eines Konstrukts zu sein, bei dem die Entscheidungen in einer Konzernzentrale einer Aktiengesellschaft, im Wohnzimmer eines Mäzens oder Machers am Tegernsee oder eines Brauseherstellers in Österreich nur unter dem Aspekt des sportlichen und oder wirtschaftlichen Erfolgs gefällt werden. Wieso sollte ich mich mit so etwas überhaupt identifizieren?
Mainz 05 hat vor Jahren ein Leitbild mit seinen Mitgliedern erstellt. Lange wurde es auch intern bei uns von vielen belächelt. Seit ein paar Tagen wissen wir aber, wenn es darauf ankommt, wird dieses Leitbild gelebt. Für die Zukunft würde ich mir mehr Spieler wünschen, die unser Leitbild vor der Unterschrift unter den Vertrag kennen, die ihre Popularität in den sozialen Netzwerken dafür nutzen, in Konflikten zu deeskalieren und faktenbasiertes Wissen zu vermitteln. Wir brauchen in der Gesellschaft reflektierte Spieler*innen, jeglicher Glaubens- und Weltanschauung, um diese permanente Spaltung zu überwinden.
Und Mainz 05? Ist für viele Außenstehende ein Depp – aber das ist auch gut so. Alles andere wäre nicht mein Verein.