Kannst Du Dich noch daran erinnern, was Du vor 15 Jahren und ein paar Wochen an zahlreichen Donnerstagmorgen gemacht hast?
Da ich im Jahr zuvor eine einjährige Weltreise unternahm, besaß ich für die Saison 2003/04 keine Mainz 05-Dauerkarte und musste damit in der ersten Erstligasaison als Vereinsmitglied für jedes Spiel der rot-weißen Jungs um Karten kämpfen. Schließlich war ich nicht der einzige, der Bock hatte, womöglich diese eine Saison im Fußball-Oberhaus im Stadion mitzubekommen.
Das Spiel in Stuttgart habe ich noch im Haasekessel angeschaut, schließlich gab es für das erste Bundesligaspiel des 1. FSV Mainz 05 für mich Normalo keine Karte mehr. Dafür ergatterte ich aber Tickets für die Auswärtsspiele in Berlin und Freiburg – denn für die Heimspiele gegen den HSV und Leverkusen, hatte ich es ebenfalls nicht hinbekommen, Karten zu erstehen. Ich richtete mich schon darauf ein, dass ich einfach die meisten Auswärtsspiele der Saison besuchen und die Heimspiele in der Kneipe gucken werde. Spätestens nach Rosis Siegtor in der Nachspielzeit im Dreisamstadion hatte ich aber so richtig Blut geleckt und wollte auch Karten für die Heimspiele ergattern. Daher stimmte ich im Zwei-Wochen-Rhythmus donnerstagsmorgens meinen Alltag so ab, dass ich irgendwo auf dem Weg zur Arbeit einen Computer mit Internetanschluss auftreiben konnte, z.B. in einer Spielhölle am Frankfurter Hauptbahnhof. Zwischen zwielichtigen Gestalten des Bahnhofsviertels drückte ich dann auf der Tastatur so lange auf „F5“ den Refresh-Button, bis ich im Ticketshop die begehrte Karte für den P-Block nicht nur virtuell in den Warenkorb legen, sondern tatsächlich auch den Bezahlvorgang abschließen konnte. Schließlich brach die Mainz05.de-Seite regelmäßig beim Kartenvorverkauf fast zusammen.
Aber ich ahnte schon im Herbst 2004, dass es bei den „Risikospielen“ nicht mehr so „einfach“ werden würde, an Karten zu gelangen. Die „Risikospiele“ waren damals die gegen Lautern und die Bayern am 32. und 33. Spieltag. Nicht, dass es ein Risiko gewesen wäre, auf die Spiele selbst zu gehen. Das große Risiko bestand darin, gar nicht erst an Karten zu gelangen. Daher konnte ich mich nicht auf die „F5-Strategie“ verlassen, sondern musste „größere Geschütze“ auffahren, in dem ich mich mit Schlafsack und Isomatte sowie Urlaubstagen „ausrüstete“.
Auf diese Idee bin ich natürlich nicht alleine gekommen. Abends gegen neun, halbzehn lagerten an einem Mittwochabend im Vorfrühling 2005 plötzlich Dutzende von Menschen mit Campingequipment ausgerüstet vor den Kassenhäuschen des Stadions am Bruchweg herum. Gute Verpflegung durfte auch nicht fehlen und irgendjemand vom Verein sperrte schließlich die Toilettenhäuschen auf. Wenn man zehn Stunden mit anderen Menschen an einem Fleck freiwillig in der Kälte verharrt und eine große Leidenschaft teilt, dann ist die Chance natürlich gegeben, dass sich wunderbare Gespräche ergeben und Bekanntschaften entwickeln. Man fiebert gemeinsam auf 8 Uhr am nächsten Morgen hin, wohlwissend, dass man mit seinem Einsatz der Übernachtungsstrategie die Karten schon recht sicher hatte. Man konnte mit einem wohligen Gefühl im Kopf und Oropax in den Ohren unter den Bäumen vor dem Stadion unbekümmert einschlummern – schließlich waren genug Gleichgesinnte da, die auf die Schlafenden ein Auge hatten.
Dass die beiden „Risikospiele“ am Ende für uns relativ bedeutungslos geworden sind, da wir am 30. April 2005 die beste aller Hexennächte im Ruhrstadion verbracht und den Klassenerhalt eingetütet hatten, konnte donnerstags morgens um kurz nach acht Uhr morgens ein paar Wochen vorher noch niemand ahnen. Diese „Heldentickets“ in der Hand zu halten und zuvor eine einzigartig gute Nacht am Bruchweg verbracht zu haben – dieses Gefühl kann uns keiner mehr nehmen und ich werde mich ein Leben lang an dieses kleine Abenteuer vor unserem Wohnzimmer mit einem guten Gefühl erinnern. Karten für ein Fußballspiel zu ergattern – das hat schon was!
Die vergangenen Tage haben unseren Alltag ziemlich durcheinandergewirbelt. Unsere Gewohnheiten und unser Konsumverhalten haben sich teilweise drastisch verändert. Manche Zukunftsforscher*innen gewinnen der aktuellen Situation durchaus positive Facetten ab und sind der Auffassung, dass die Mehrheit der Menschen in Zukunft beispielsweise nicht mehr so viel Flugverkehr braucht und durch Homeoffice nicht mehr so viel gependelt werden muss. Vielmehr sind ab sofort Kreativität und Solidarität gefragt. Und natürlich Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die in so genannten systemrelevanten (Mini-)Jobs arbeiten, und die in Zukunft mehr Geld verdienen sollten.
Geld ist wirklich ein gutes Stichwort. Denn dieses ist der
Punkt, um den es beim höherklassigen Fußball bisher einzig und alleine geht.
Das wissen wir eigentlich schon lange, aber der DFL-Chef hat es vor ein paar
Tagen zum ersten Mal tatsächlich direkt auf den Punkt gebracht und vom „Produkt
Fußball“ gesprochen. Die DFL stellte bis zum 11. März 2020 in ihren 36
Produktionsstätten, früher einmal Stadien genannt, ein Produkt her. Seither ist
die Produktion eingestellt, da zu ihr Menschen nötig sind und bei der
#PhysicalDistancing unmöglich ist. Oberstes Ziel der Gesellschaft ist
allerdings gerade das Einhalten jener physischen Distanz zwischen den Menschen –
und das mindestens noch bis zum 19. April 2020. Daher scheint es zunächst
einmal stringent, dass die DFL am Dienstag den Produktionsstopp bis zum 30.
April 2020 verkündet hat.
Während allgemein angenommen wird, dass bundesweit im besten Fall ab dem 20. April 2020 die aktuellen Beschränkungen gelockert werden, plant die DFL auf ihrer Produktionsfläche, früher auch unter dem Begriff „Spielfeld“ bekannt, den Betrieb mit einem Schlag wieder auf Vor-Corona-Niveau hochzufahren – laut „Kicker“ möglichst ab Mai 2020. Das virtuelle Meeting der Verantwortlichen am Dienstag mit den 36 Produktionsbetrieben, früher einmal „Vereine“ genannt, hat eines gezeigt: (TV-)Geld ist alles. Das Produkt Fußball ist so abhängig vom Geld der Fernsehsender wie Influencer*innen von Klicks und Likes. Ich ziehe bewusst keine anderen Vergleiche, denn Menschen, die von irgendwelchen Substanzen abhängig sind, sind krank und benötigen eine Therapie, sprich Hilfe.
Den Verantwortlichen rund um das Produkt Fußball ist gegenwärtig noch nicht zu helfen. Dafür müsste zunächst eine gewisse Einsicht einkehren, dass in den letzten Jahren etwas grundsätzlich schief gelaufen ist. Seit Jahren bewegen sie sich in einer Blase. Diese Blase hat sie ein wenig taub gemacht für die Entwicklungen außerhalb ihres geschützten Kosmos. Das hat sich erst vor ein paar Wochen gezeigt, als es um Plakate ging. Ein Blasenmitglied wurde in seiner Produktionsstätte verbal derb beleidigt. Innerhalb der Blase wurde sich mit dem Mitglied solidarisiert. Solidaritätsbekundungen mit Mitgliedern außerhalb der Blase, die in der Vergangenheit in ebenfalls in Produktionsstätten beleidigt wurden? Fehlanzeige!
Während das ganze Land schon darüber diskutierte, wie das Virus einzudämmen sei, und Fachleute bereits dazu rieten, auf Distanz zu gehen und Menschenansammlungen zu meiden, sollte unbedingt noch ein Spieltag durchgeführt werden – ohne Zuschauer! Wie stand es um den Schutz der Gesundheit derer, die in der Produktionsstätte das Produkt hätten produzieren sollen, sprich die Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Kameraleute und die vielen anderen Menschen, die dafür notwendig sind, ein Fußballspiel durchzuführen? Wenn man einen Entzug fürchtet, ist die eigene Gesundheit scheinbar sekundär. Hier wäre es aber noch nicht einmal um die eigene Gesundheit der für die Produktion Verantwortlichen gegangen. Sondern um die Gesundheit von Mitarbeiter*innen, die den oben genannten Personengruppen zuzuordnen sind. Es existieren Fürsorgepflichten seitens der Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter und diese wären schlimmstenfalls verletzt worden. Zum Glück setzte sich der gesunde Menschenverstand dann in letzter Sekunde doch noch in der Blase durch – immerhin.
Jede*r Unternehmer*in weiß jedoch, dass es gefährlich ist, sich von einem Kunden oder Produzenten abhängig zu machen. Im Falle des Produkts Fußball sind es die Fernsehsender, deren Journalist*innen teilweise ebenfalls Mitglieder dieser Blase sind. Dies wurde offensichtlich, als es um die oben genannte Beleidigung ging und sich auch einige TV-Journalist*innen bei ihrem Blasenmitglied anbiederten, statt zu recherchieren und mit der nötigen Distanz über diesen Vorfall zu berichten. Es wurden in der Vergangenheit immer neue Rekordverträge für die TV-Vermarktung generiert. Dafür gab es neben den unsäglichen Montagsspielen in der 2. Liga plötzlich auch Spiele am Montag in Liga 1 (und 3), damit immer mehr Partien, die einzeln zu vermarkten waren – für die dafür zahlenden Fernsehzuschauer*innen.
Gewinnmaximierung ist nicht nur die Leitlinie im Fußball, sondern auch in der Formal 1. Um auch in der aktuellen Situation weiter ungestört produzieren zu können, wurde bei einem Rennstall, der zufälligerweise auch ein Konstrukt in der Bundesliga hochgezüchtet hat, vom Motorsportberater die Idee erörtert, die Fahrer absichtlich mit dem Virus zu infizieren, damit diese sich schneller immunisieren. Dass auch junge Menschen an Covid-19 sterben, hat bei der Entwicklung dieser Idee wohl keine Rolle gespielt, zumal der Berater am 10. März mit folgenden Sätzen zitiert wurde: „Es handelt sich um eine Influenza. Es sterben Großteils Menschen im hohen Alter mit einer Vorerkrankung.“ Und weiter: „Die Quarantäne ist das Problem“, man müsse „der Panikmache mancher Politiker entgegenwirken und darf sie nicht noch unterstützen.“ Zum Glück wurde die Idee verworfen. Sie zeigt aber, dass sich der Profisport einfach für zu wichtig hält. Die breite Mehrheit der Fernsehzuschauer*innen, schaut Fußball oder Formel 1 noch freiwillig und nicht aus beruflichen Gründen. Es ist eine Freizeitbeschäftigung. Die große Mehrheit der Bevölkerung gehört nicht zu den 56 000 Beschäftigten, die mit dem Produkt Fußball ihren Lebensunterhalt verdienen. Fußball im Speziellen und Profisport im Allgemeinen ist nicht systemrelevant. Das gilt jetzt besonders, aber auch in „normalen“ Zeiten stimmt diese Aussage. Das haben die Verantwortlichen in anderen Sportarten wie dem Eishockey bemerkt und ihre Saison einfach abgebrochen – in einer Sportart, die mit wesentlich weniger Geld wirtschaften muss, als es im Fußballbusiness der Fall ist. Und selbst die Verantwortlichen in Wimbledon haben das diesjährige Tournier am Mittwoch abgesagt – obwohl sich Tennis mit 1,50 Abstand relativ gut spielen lässt – im Gegensatz zum Fußball.
Und was macht die DFL? Sie richtet eine „Task Force Sportmedizin / Sonderspielbetrieb“ ein, die ein Vorgehen erarbeitet „mit dem eine engmaschige, unabhängige Testung von Spielern und weiterem Personal unter anderem unmittelbar vor den Spieltagen durchgeführt werden kann“. Stand heute sind Corona-Tests nicht so einfach zu haben, wie eine Dose Brauselimo aus Fuschl am See. Mit welcher rechtlichen Begründung möchte die DFL hunderte von Tests für sich proklamieren? Und das womöglich vor jedem Spieltag?
Gegenwärtig entstehen abseits der Fußballproduktion täglich
neue Lösungsansätze. Angeblich brauchen wir ja in Zukunft kaum noch Flugzeuge.
Dass im Bauch der Passagiermaschinen ganz viel Luftfracht mitfliegt, um in
guten Zeiten beispielsweise Blumen aus Kolumbien, Wein aus Südafrika und
argentinische Steaks nach Deutschland zu transportieren, wissen wahrscheinlich
nicht so viele Leute. Dass aber aktuell diese Passagiermaschinen komplett mit
dringend benötigter Luftfracht befüllt werden, also Gepäckfächer und
Passagiersitze beispielsweise mit Millionen von Atemschutzmasken aus China
beladen werden, zeigt, dass die Airlines umschichten, sicherlich zu ihrem
eigenen Überleben, aber auch, um die nun mal bestehenden Lieferketten am Leben
zu erhalten, um Leben zu erhalten. Und das Produkt Fußball? Wie ist es dort um
die Kreativität bestellt?
Die einfachste Lösung, die Saison abzubrechen, würde natürlich viele Produktionsbetriebe in der Tabelle benachteiligen. Aber wieso nicht einfach, nur Aufsteiger „produzieren“ – keine Absteiger? Oder die Liga einfach so lange aussetzen, bis wieder normal produziert werden kann? Und dann ggf. halt eine Saison durchzuführen, die zwei Jahre dauert – und gleichzeitig Lösungen mit TV-Sendern suchen. Sprich die Verträge entsprechend länger laufen zu lassen – ja, auch mit den ungeliebten Montagsspielen. Oder Gutschein-Lösungen entwickeln, um den finanziellen Mittelabfluss zu verhindern? Sprich, die Saison würde abgebrochen, und die Fernsehgelder fließen trotzdem. Dafür würden die Verträge mit den TV-Anstalten einfach zeitlich nach hinten verlängert und die Fernsehzuschauer würden ebenfalls eine Abo-Verlängerung erhalten. Und/oder es würde gleichzeitig mit allen Spielern ein Modell der Kurzarbeit entwickelt, damit diese einerseits nicht finanziell ins Bodenlose fallen, aber, wie Millionen anderer Menschen auch, für Monate finanzielle Abstriche machen müssten. Es wird von der DFL so getan, als sei alles in Stein gemeißelt. 750 Millionen Euro Schaden würden entstehen, wenn nicht zu Ende gespielt wird. Das sind doch „Peanuts“, wenn man an die Ablösesummen der letzten Jahre denkt. Aber das Produkt Fußball hält sich nunmal für systemrelevant und unverzichtbar. Und das gegenwärtige Vertragskonstrukt für alternativlos. Die Medienrechte-Ausschreibung wird ja tatsächlich verschoben. Das hätte ein erstes Indiz dafür sein können, dass entsprechend gedacht wird. „Anstelle des ursprünglich geplanten Termins im Mai ist eine Vergabe ab Juni dieses Jahres vorgesehen.“ Zitat DFL – es ist aktuell dann doch noch keine Einsicht vorhanden, leider.
Von den bereits angesprochenen gesundheitlichen Aspekten abgesehen, wird als einzige Lösung die Durchführung von Geisterspielen präsentiert. Stadionverbot für alle sozusagen. Das ist natürlich auch eine Art gelebter Solidarität. Und eine nie dagewesene Ehrlichkeit. Wenn im Mai Menschen weiterhin #PhysicalDistancing betreiben sollen und gleichzeitig Fußballspiele stattfinden, dann denke ich, dass die DFL den Bogen endgültig überspannt hat. Das Fanvolk soll das Geschehen am Bildschirm im Wohnzimmer verfolgen. Gerade bei Derbys wird es sicherlich Menschengruppen geben, die es nicht zu Hause auf dem Sofa aushalten, sondern versuchen werden, das Spiel gemeinsam zu schauen. Die Ordnungskräfte haben sicherlich besseres zu tun als in diesem Fall Menschengruppen auseinanderzutreiben. Die Politik zeigt aktuell eine nie dagewesene Entschlossenheit zu gestalten. Es bleibt spannend, mitzuverfolgen, wie sie auf die Pläne der DFL reagieren wird.
Egal, ob es nun zu Geisterspielen kommen wird oder nicht – die DFL hat durch ihren Entschluss, die Saison möglichst bis zum 30. Juni 2020 auf Gedeih und Verderb zu Ende zu bringen, gezeigt, dass für sie die Zuschauer in der Produktionsstätte bloßes Beiwerk sind:
Das Kind, das zum ersten Mal mit Mama und/oder Papa hingeht.
Das Rentnerpärchen, das seit Jahrzehnten nuff geht.
Die Gruppe an Flüchtlingen, die im Rahmen von „In unserer Kurve ist noch Platz“ dorthin kommt.
Die Mitglieder karitativer Einrichtungen, die auf Einladung eines Sponsors einen Besuch geschenkt bekommen.
Die beiden Nasen, die sich durch das Premium-Fenster das Spiel anschauen dürfen.
Die gut Betuchten, die einen Logenplatz gebucht haben.
Die Normalos, die sich einfach mal wieder aufregen und/oder pöbeln wollen.
Die Selbstdarsteller*innen, die das Rampenlicht mittels Clownskostüm suchen.
Die Analyst*innen, die sich mit Doppelsechsern, falschen Neunern und Dreier-, Vierer oder Fünfer-Ketten beschäftigen.
Die Ultras, die, wenn sie nicht gerade böse Plakate basteln oder dekadent Klorollen aufs Spielfeld werfen, so schöne Choreos durchführen (und deutschlandweit aktuell sehr viel Hilfe den Risikogruppen anbieten – danke dafür, übrigens).
Die Kutten, die schon immer da waren.
Die Koreaner*innen und Japaner*innen, die für ein Selfie mit Ihren Idolen an die Werbebande kommen.
Die Modefans, die auch schon „immer da“ waren.
Sie sind alle systemirrelevant!
Es stellt sich für uns für die Zukunft die Frage: Brauchen wir es noch? Dieses Produkt Fußball in seiner aktuellen Form?
Nachhaltigkeit wird bei Mainz 05 immer wieder betont. Dass sich der Verein auf einem guten Weg befindet zeigt seine Bereitschaft, sich mit der Klimaproblematik auseinanderzusetzen. Der Verein unterstützt die Fridays for Future Aktivist*innen und schreibt sich selbst auf die Fahnen, der erste klimaneutrale Verein der Bundesliga zu sein.
Ferner gibt es im Fanshop mittlerweile viele Klamotten, die fair produziert wurden und das GOTS-Siegel tragen. Ob sich mit dem neuen Trikotsponsor Kappa ab der nächsten Saison Fair Fashion-Projekte realisieren lassen, bleibt abzuwarten. Dies hatte ich ja bereits in einem Blog-Beitrag thematisiert.
Beim Thema Wirtschaftsbeirat tut sich der Verein zwar gerade keinen Gefallen, da die mehr als 15 Beiräte allesamt männlich sind. Aber hier ist hoffentlich nicht alles in Stein gemeißelt und es finden sich bestimmt kompetente Frauen, die diesen Beirat bereichern.
In meinem ersten Blog-Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit bei Mainz 05 ging es auch um das Thema Stadionverpflegung. Habe ich mich damals hauptsächlich mit der Abfallvermeidung und der Frage Mehrweg oder Einweg beschäftigt, möchte ich heute das Hauptaugenmerk mal auf das Thema Speisen legen. Auch wenn Mainz 05 beim PETA-Ranking des vegetarierfreundlichsten Stadions nicht ganz vorne liegt, ist das Angebot an fleischfreien Speisen in den letzten Jahren gewachsen. Es kann sich sicherlich niemand mehr beschweren, dass man im Stadion als Vegetarier oder Veganer nur die Brötchen rund um die Feuerwurst essen könne, was leider in manchen Stadien der Republik heute noch im Gästeblock Alltag ist.
Allerdings stellt sich die Frage, ob das Angebot nachhaltig ist und der Verein hier tatsächlich als „Klimaverteidiger“ auftritt. Natürlich wäre es revolutionär, wenn Mainz 05 komplett auf Fleisch verzichten würde. Aber das würde die meisten Menschen schlichtweg überfordern. Die Bratwurst gehört für viele Leute zum Stadionbesuch dazu. Das wäre gegenwärtig alles andere als zielführend. Um Nachhaltigkeit in den Alltag möglichst vieler Menschen hineinzubekommen, muss dies in kleinen Dosen geschehen. Das ist keineswegs zynisch oder ironisch gemeint – wir sind so wie wir sind 🙂
Auf Biofleisch bei Wurst und Co. zu setzen würde hingegen
den Geldbeutel vieler Stadiongänger*innen überfordern. Denn eine Wurst wäre
sicherlich nicht für unter 5 € zu haben. Was also tun? Vielleicht mal über den
Tellerrand schauen:
Ein großes Hotel in Finthen bietet seit Jahren 4-Gänge-Menüs in seinem Restaurant an. Soweit so gut, soweit so normal. Aber das 4-Gänge-Menü mit Fleisch kostet 59 € – das Menü mit ausschließlich vegetarischen Speisen 41 €. Sprich es kostet ca. 30 % weniger. Auf das Stadion übertragen, könnte man diese Preisdifferenzierung ebenfalls einführen. Aktuell werden für eine Riesen-Brezel, die gar nicht so riesig ist, 2 € verlangt. Ebenfalls 2 € kostet ein Fleischkäsebrötchen. Natürlich soll die Brezel im Stadion ruhig ein wenig mehr kosten als an der Bude in der Stadt. Aber dieser Aufschlag sollte auch für das Fleischkäsebrötchen gelten – möchte man als Verein den Unterschied in Sachen Nachhaltigkeit machen.
Zurück ins Hotel. Dort wurde auf der Speisekarte angegeben, wo die Zutaten angebaut wurden. Die Rote Beete stammte beispielsweise aus Gonsenheim, der Spätburgunder für die Mousse von einem Weingut aus Saulheim. Sprich es wurde Wert auf regionale Produkte gelegt. Auf das Stadion übertragen stellt sich die Frage, ob es Avocado-Sandwiches wirklich geben muss? Schließlich wächst die Avocado nicht in Rheinhessen und braucht ziemlich viel Wasser um zu gedeihen – oft in Ländern mit Wasserknappheit. Der Transport dieser Beere (kein Witz) verhagelt natürlich die Klimabilanz von Mainz 05 extrem.
Und wieder zurück ins Hotel. Dort wurde als Hauptgang Spitzkohl aus Ginsheim serviert. Spargel ist sicherlich auch lecker, aber die Saison kommt halt erst in ein paar Monaten. Auf das Stadion übertragen wären beispielsweise Schwarzwurzeln oder anderes frittiertes Wintergemüse aktuell eine Möglichkeit – neben den tatsächlich angebotenen Kreppeln natürlich. Warum nicht später im Jahr eine Spargelcremesuppe anbieten und im Herbst Reibekuchen mit Apfelmus? Alles halt zu gegebener Zeit. Aber natürlich tun es auch die kredenzten Pommes oder Kartoffelecken mit Kräuterquark. Es bleibt zu hoffen, dass nicht demnächst Süßkartoffel-Pommes den Avocadosandwich ablösen.
Um ein nachhaltiges Catering im Stadion anzubieten ist es folglich nicht damit getan, einfach ein paar vegane Gerichte anzubieten. Gemüse aus der Region, das teilweise nur saisonal geerntet wird, sollte hier die Lösung sein – zu einem Preis, der deutlich unter dem für Fleischgerichte liegt. Dann klappt’s nicht nur mit der Nachhaltigkeit im Nachwuchsleistungszentrum sondern auch beim Futtern!