Raus aus der Schublade

Sagt Euch der Name Riku Riski etwas? Ja? Prima, dann hat habt Ihr ein gutes Gedächtnis, denn er schaffte es vor wenigen Wochen in die weltweiten Nachrichten und Ihr habt ihn in diesen schnelllebigen Zeiten immer noch auf dem Schirm. Respekt!

Die Corniche in Doha, Katar.
Die Corniche in Doha, Katar.

Nein, der Name sagt Euch nichts (mehr)? Dann geht es Euch so wie mir und wie fast allen Leuten, die ihn Anfang 2019 auch (noch) nicht kannten. Er blieb einem Trainingslager der finnischen Fußballnationalmannschaft in Katar fern, weil er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, dorthin zu reisen. Dass sich ein Fußballprofi mit dem Gewinner der Asienmeisterschaft 2019 und dem Gastgeberland der WM 2022 auseinandersetzt, ist sehr löblich. Dass er zu dem Schluss kommt, aus ethischen Gründen dorthin nicht zufahren, ist seine persönliche Entscheidung.


Zwischenstopp in Katar auf dem Weg nach Baku 2016

Auch die Bayernfans machten am 19. Spieltag auf Katar aufmerksam. In einem überdimensionierten Plakat sah man Rummenigge und Hoeneß von „Hervorragenden Trainingsbedingungen“ sprechen – dabei hatten sie nur Dollarzeichen im Sinn, während im Hintergrund Menschen ausgepeitscht wurden. Der SPIEGEL machte letzte Woche mit einem Artikel auf, der auf das Jahr 2015 zurückgeht, in dem die Handball WM im Wüstenstaat stattfand und ein Geschäftsmann um seinen Lohn gebracht wurde, für eine Last-Minute-Kopie des Weltpokals, die er kurzfristig angefertigt hat – ohne einen Vertrag aufzusetzen… mit der entsprechendem Werbeagentur wohlgemerkt, nicht mit dem Staat Katar. Philipp Köster, Chefredakteur der 11FREUNDE, reiht sich in der aktuellen Ausgabe seines Magazins mit seiner oftmals sehr lesenswerten Kolumne „Rot wegen Meckerns“ unter dem Titel „Lästige Moral“ ebenfalls ein, da Oliver Bierhoff im Auftrag des DFBs Katar auch einen Besuch abgestattet hatte. Für so ziemlich jeden Kommentator ist damit die Lage klar: Der Fußballspieler der Gute, der FC Bayern geldgeil, der DFB unmoralisch und der Geschäftsmann die arme Sau. Ergo ist Katar für sie das große böse Wüstenland, das gerade einmal so groß wie Hessen ist, aber das aufgrund seines Reichtums durch immense Gasreserven (nicht Ölquellen, wie so manch einer behauptet) sich alles leisten bzw. kaufen kann. In unserer komplexen Welt sind wir alle oft etwas überfordert, und wir versuchen unwillkürlich Dinge möglichst rasch zu ordnen. Man kann auch von Schubladendenken sprechen. Doch diese Schwarz-Weiß-Malerei greift in unserer heutigen Welt einfach zu kurz. Aber der Reihe nach.

Die WM nach Katar zu vergeben stieß bei vielen Fußballfans auf strikte Ablehnung. Was bildet sich dieser Zwergstaat eigentlich ein? Aber es ging um die Vergabe einer Fußballweltmeisterschaft. Diese sollten eigentlich alle Mitgliedsstaaten der FIFA ausrichten dürfen, gerade dann, wenn es finanziell in den Rahmen passt, was man beispielsweise von Ländern wie Südafrika oder Brasilien nicht wirklich behaupten kann. Dieses Rumgeheule, nicht nur von vielen Sommermärchen-Fans, erinnert gerade an die so genannte „Traumbundesliga“, in der zahlreiche Traditionsvereine genannt werden, die doch so viel lieber in der ersten Liga spielen sollten als die Jungs aus Mainz oder Freiburg. Und wie ist Katar an die WM gekommen? Wahrscheinlich so ähnlich wie Deutschland 2006. Kann man ablehnen, aber hat es Deutschland tatsächlich besser gemacht?

Einmal die WM an Katar vergeben, kam der nächste Kritikpunkt auf: Auf den WM-Baustellen würden Sklaven arbeiten. Die Aussage von Franz Beckenbauer, er habe in Katar gar keine Sklaven gesehen, lasse ich mal lieber unberücksichtigt. Aber durch die Vergabe der WM an Katar rückte dieses Land in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Plötzlich schaute man hin und stellte Missstände fest. Diese gab es aber nicht nur auf den WM-Baustellen, sondern generell im Bausektor. Ob ein Gastarbeiter auf einer Stadion-Baustelle oder in einem Wolkenkratzer mangels Arbeitsschutz sein Leben lässt, ist unerheblich – der Umstand an sich, dass ein Mensch stirbt, ist eine Tragödie. Daher kann man es auch als Glücksfall bezeichnen, dass das Land jetzt mindestens noch drei Jahre unter der genauen Beobachtung steht, was die Baustellen angeht. Dank guter journalistischer Arbeit tut sich auch etwas. Und der mediale Druck wird sicherlich in der nächsten Zeit nicht geringer. Ende 2018 änderte Katar seine Regeln in Bezug auf den Aufenthalt von Gastarbeitern (und Fußballprofis) im Land. Diese können nun jederzeit das Land verlassen, was früher nicht möglich war, und das ist sicherlich auch ein Verdienst von Menschenrechtsaktivisten.

Die beste Möglichkeit, sich ein Bild von einem Land zu machen, ist allerdings dorthin zu fahren oder mit den betroffenen Leuten zu sprechen, die dort lebten. Ich habe beides gemacht. Doha, die Hauptstadt, war 2016 eine große Baustelle und die meisten Menschen, denen ich begegnet bin, hatten gar keine katarische Staatsbürgerschaft. Sie gehörten zu den besagten Gastarbeitern und hielten sich zeitlich befristet in Katar auf. Jahre zuvor traf ich in Nepal auf einen ehemaligen Gastarbeiter, der in Katar einige Jahre verbracht hatte. Er war dankbar, als Fahrer so viel Geld verdient zu haben, dass er sich, zurück in seiner Heimat, mit seinem erworbenen Auto eine Existenz aufbauen, und mich nun durch den Himalaya-Staat kutschieren konnte. Auf die Arbeitsverhältnisse angesprochen, war er voll des Lobes über das Land – auch diese Geschichten gibt es. Sie klingen halt nur nicht so spektakulär, herzzerreißend und dramatisch, sind aber auch ein Teil der Wahrheit.

Katar möchte sich als Sportnation etablieren. Ob man das nun gut findet oder nicht, wichtig ist, dass die Welt auf das Land und auch seine Nachbarn schaut. Denn dort arbeiten tatsächlich Tausende von Gastarbeitern hauptsächlich aus Südasien, weil sie sich dort mehr für ihr Leben versprechen als in der Heimat. Man stelle sich vor, die arabische Halbinsel wäre kein solcher Jobmagnet und diese Menschen würden über den Iran und den Irak in die Türkei und nach Europa flüchten, da sie sich dort ein besseres Leben als in Pakistan, Indien oder Sri Lanka versprächen.

Einige Nachbarstaaten verstehen sich aktuell gar nicht mit Katar. Sie versuchen Katar sogar ziemlich zu isolieren. Al Jazeera, der einzige TV-Sender in der arabischen Welt, in der Pressefreiheit gelebt wird, und der sehr stark mit der weltweit anerkannten BBC kooperiert, hockt in…Katar. Und eine der Forderungen der Nachbarn an Katar ist Al Jazeera endlich zu schließen, sprich das zarte Pflänzchen der Pressefreiheit in dieser Region endlich kaputt zu treten, damit man zu Hause wieder ungestörter sein Ding drehen kann.

Ich denke das Beispiel Katar zeigt, dass es heute nicht mehr so einfach ist, ruckzuck ein Urteil zu einem Sachverhalt zu fällen. Vielleicht war es das auch früher nicht. Auf den ersten Blick scheint Katar vielen ein Staat zu sein, den es komplett abzulehnen gilt. Beim näheren Hinschauen fällt uns dann vielleicht auf, dass wir in einer mittlerweile seit Jahrzehnten funktionierenden Demokratie leben und unsere Nachbarstaaten uns nicht feindlich gesinnt sind. Welcher Staat außer Israel ist in der Region eine Demokratie? Richtig, der Jemen! Und da stellt sich dann doch die Frage, ob wir mit unserem westlichen Gesellschaftsverständnis überall ein Copy/Paste durchsetzen wollen, um einen Staat toll zu finden. Das hat in Afghanistan nicht funktioniert und der Arabische Frühling ist letztlich auch überall gescheitert. Übrigens war Katar eines der Länder, in denen es keine Proteste während des Arabischen Frühlings gab – vielleicht weil die Einwohner mit dem autokratischen Stil des Emirs aufgrund des Wohlstands zufrieden sind und Meinungsfreiheit in Katar (im Vergleich zu seinen Nachbarn) nicht vollkommen fremd ist, 70 % der Immatrikulierten auf den Unis von Katar Frauen sind und Homosexualität laut Auswärtigem Amt in Berlin nicht aktiv verfolgt wird.

Sich mit Katar auseinanderzusetzen ist gut. Das Katar-Bashing von manchen Leuten bringt mediale Aufmerksamkeit und Zuspruch von fast allen Seiten. Sich in diesem Zusammenhang für die Rechte von Homosexuellen und von Frauen mit Hilfe von ein paar Zeilen „einzusetzen“ ist sicherlich nicht verwerflich, aber den Betroffenen vor Ort bringt eine Kolumne in einem deutschen Magazin für Fußballkultur sicherlich so rein gar nichts. Das erinnert ein bisschen an die Kritik in den sozialen Netzwerken „weißen, alten Männern“ gegenüber. „Weiße, alte Männer“ sind in diesem Zusammenhang, wir Menschen aus der westlichen Welt, die schon immer wussten, dass das was für uns gut ist, auch gut für alle anderen Erdenbewohner ist. Ja, die Demokratie ist auch meiner Meinung nach die beste Staatsform, die es real existierend gibt. Aber auch bei uns hat es Jahrzehnte gebraucht, um diese gedeihen zu lassen. Es ist ja auch nach wenigen Jahren erst mal 1933 gescheitert. Und bis 1989 war dieses in Teilen Deutschlands weiterhin nicht präsent. Gleichzeitig sollte man es auch tolerieren, wenn Menschen in anderen Regionen sich nicht für die Demokratie stark machen, weil sie vor ihrer Haustür erleben, was in einer Demokratie wie dem Jemen gerade abgeht. Wenn wir vor die Wahl gestellt werden: Auf der einen Seite Demokratie, Bürgerkrieg, Hunger und fehlende Versorgung der Kranken und andererseits Autokratie, Wirtschaftswachstum, relative Meinungs- und Pressefreiheit, gratis Krankenversorgung, ist es nur menschlich, sich für letzteres zu entscheiden

Der FC Bayern und der DFB haben mit ihrer Katar-Connection die Chance, Missstände anzusprechen – hinter verschlossenen Türen und nicht im Rahmen einer Pressekonferenz, einer Pressemitteilung oder einem Social Media Post. Mit Dr. Jörg Englisch hat der DFB einen Compliance-Beauftragten, dessen Aufgabe es sein sollte, mit Katar Themen wie Arbeitsschutz, Mindestlohn, die Rolle von Minderheiten etc. zu besprechen. Gleiches gilt für den FC Bayern, der einen Compliance-Beauftragten endlich einstellen sollte. Journalisten sollten weiterhin das Land kritisch beobachten und bei den Rechten der Gastarbeiter genau hinschauen. Denn schließlich ist es eigentlich eine gute Sache, dass Katar so die Weltöffentlichkeit sucht und die Nähe zu den Erfolgreichen im Fußball. Es gibt 195 Staaten auf der Erde und in vielen läuft vieles falsch. Nur wenige wie Katar suchen das Licht der weltweiten Öffentlichkeit. Dies gilt es zu nutzen, um in diesen Staaten tatsächlich etwas zu bewegen, damit ein mündiger Spieler wie Riku Riski zukünftig ohne schlechtes Gewissen dorthin reisen kann und sich im besten Fall selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, ggf. Aktivisten zu treffen, statt einfach den Kopf in den Sand zu stecken und das Land zu meiden.

Spätlese Hoffenheim Jahrgang 2018/19

Auswärts fahren bietet in unserem komplett verplanten Alltag eine Möglichkeit, Unplanmäßiges geschehen zu lassen, überraschend positive Erlebnisse zu sammeln oder auch negative Erfahrungen zu machen. An dieser Stelle berichte ich über meine rein subjektiven Eindrücke rund um die jeweilige Auswärtsfahrt, jeweils mit ein wenig Abstand betrachtet – eine Spätlese eben!:

01 Hin und weg

Fahre ich am liebsten mit der Deutschen Bahn zum Auswärtsspiel, bildet die Fahrt nach Sinsheim traditionell *hust* die Ausnahme. Seit unserem ersten Pflichtspiel mit der ersten Mannschaft in der 2. Liga vor elf Jahren, als es noch hoch in den Wald oberhalb von Hoffenheim ging, fuhr ich entweder mit Freunden im PKW oder mit dem Bus nach dorthin. Das Busangebot unserer Supporters deckt mittlerweile praktisch jedes Auswärtsspiel ab – so auch die Auswärtsfahrt zur TSG. An dieser Stelle ein großes Lob an die aktiven Mädels und Jungs der Supporters, die bei jedem Heimpspiel vorkicks und nachkicks am Fantreff sitzen und uns die Tickets für die Busse (und die Spiele) aushändigen. Wie bei jeder Fahrt mit den Supporters treffe ich Leute persönlich, die ich vorher nur vom Sehen oder vom Internet her „kannte“. Die Supporters-Fahrten bieten uns allen eine wunderbare Möglichkeit, sich mal offline und abseits des Gästeblocks auszutauschen. Und dann im Bus tatsächlich mal wieder alte Nasen zu treffen, mit denen man schon in Armenien der Militärkapelle lauschte, machte die Fahrt alleine schon zu einem Vergnügen.

Kein Platz zum Unterstellen  zur blauen Stunde an der A6 bei Sinsheim
Kein Platz zum Unterstellen zur blauen Stunde an der A6 bei Sinsheim

02 (N)immer nuff

Die Fahrt zum Stadion an der Autobahnausfahrt Sinsheim ist an Attraktivität nicht zu überbieten – wenn man kurze Wege in den Gästeblock als das Maß aller Dinge bei einer Auswärtsfahrt ansieht. Ansonsten ist es einfach eklig bei immer nasskaltem Wetter im Kraichgau auf dem umzäunten Busparkplatz zu verweilen. Während die angrenzenden Parkplätze im Autoland Deutschland Solarzellen-bestückte Überdachungen für das Allerwerteste aus Blech und Stahl bieten, gibt es für den Auswärtsmob vor den Sicherheitskontrollen keinerlei Unterstellmöglichkeit – es sei denn ein Dixi geht als Schutzhütte durch.

03 Kon-Trolle

Fastnachtstrikot und Nikolausmützen am 4. Advent - Helau und Frohe Weihnachten!
Fastnachtstrikot und Nikolausmützen am 4. Advent – Helau und Frohe Weihnachten!

Der Gang die Treppen nuff zu den Sicherheitskontrollen in Sinsheim kommt mir immer wie ein Gang zur Schlachtbank vor. Von oben wirst Du bereits von der Security fixiert, während Du Dich Stufe um Stufe näherst und Deine nassen Füße um die Wellenbrecher herum navigierst. Oben angekommen, war dann zumindest bei mir, wie bereits an Fastnacht, die Kontrolle schnell passiert. Die Lässigkeit der Ordner damals bei all den Kostümen und dem Krimskrams, den wir im Februar mitgeschleppt hatten, war so mit das einzige Highlight am Fastnachtssamstag gewesen.

04 Kampf um den Mampf

Marketing-Menschen suchen ja immer den einen Vorteil, den ihr Produkt gegenüber dem der Mitbewerber inne hat. Den so genannten Unique Selling Point, kurz USP – bei Fans steht diese Abkürzung wohl eher für Ultras St. Pauli, deren Verein ja auch den einen oder anderen USP sehr vielen Hippsterfans suggeriert, wobei das „Anti-fa“ Duschgel zugegebenermaßen schon ein sehr alternativloser USP ist… Auf jeden Fall gibt es tatsächlich auch bei der TSG einen USP: Pommes Spezial, sprich mit Mayo, Ketchup und Röstzwiebeln. Warum das nur am Fahrbahnrand der A6 möglich ist und mittlerweile Pommes im Gästeblock fast überall verbannt sind, ist mir ein Rätsel – oder smarte Controller haben bemerkt, dass Friteusenpommes einen niedrigeren Return on Investment bieten als völlig überteuerte Laugenbrezeln, die man zur Not noch beim nächsten Spiel versemmeln kann.

USP - Pommes Frites Spezial
USP – Pommes Frites Spezial

Richtiges Bier gibt es bei der TSG für Gäste bekanntlich nicht. Da es das auch nicht in Freiburg gibt, beide Städte zu Baden gehören und umgekehrt Gäste bei den Schwaben in Stuttgart richtiges Bier im Gästeblock erhalten, liegt meine Sympathie dann doch eher bei Württemberg als bei Baden. Dabei sind Rivalitäten vieler Vereine mit Stuttgartern doch wesentlich größer als mit der TSG oder den Breisgau-Brasilianern. Gibt es kein richtiges Bier, dann gibt’s dafür halt mit Pils und Hefeweizen gleich zwei Alkoholfreie zu Auswahl. Von einem weiteren USP würde ich hier aber nicht schreiben, denn alkoholfreies Bier im Gästeblock bei einem Null-Risiko-Spiel ist einfach Schikane, das Stadionerlebnis den Gästen möglichst schön zu vermiesen.

05 Käfighaltung

Der Blick vom Gästeblock aufs Spielfeld und rüber zur Bitburger-Kurve (kein Witz) Hoffenheim ist zwar nicht verkehrt. Aber die direkte Nähe zwischen Mannschaft und Fans herzustellen ist hier vollkommen unmöglich. Das war vielleicht auch einer der Gründe, warum die Mannschaft nach dem Abpfiff ein wenig umherirrte, und sich schließlich dafür entschied, sich im benachbarten Sitzblock abklatschen zu lassen. Schließlich kannten die meisten der rot-weißen Jungs diese Ecke des Stadions ja noch gar nicht, da am Fastnachtssamstag die Nähe zu den mitgereisten Fans bekanntlich nicht wirklich auf ihrer Bucket-List stand. So betraten nach Abpfiff am Tag vor Heiligabend dann viele Spieler nochmals Neuland. Aber Schwamm drüber. Die wunderbare Entwicklung in den letzten zehn Monaten zurück zu einer Einheit von Mannschaft, Verein und Fans zu werden, spricht Bände. Bestes Sinnbild dafür waren die Sandro-Schwarz-Sprechchöre nach Abpfiff, die für mich einen wunderbaren Abschluss der Auswärtsfahrten in diesem Jahr darstellten.

Ende gut alles Gut - Vorbeischauen am Gästeblock
Ende gut alles Gut – Vorbeischauen am Gästeblock

Fazit: Der Jahrgang 2018/2019, der erst einen Tag vor Heiligabend produziert wurde, hat Charakter, in dem er durch Weihnachtslieder in Endlosschleife und eine Smartphone-Choreo gewürzt wurde und daraus dann tatsächlich eine ganz besondere Spätlese wurde, an die sich alle Genießer*innen sich bestimmt noch Jahre erinnern werden – zum Wohl!

Spätlese Leipzig Jahrgang 2018/19

Auswärts fahren bietet in unserem komplett verplanten Alltag eine Möglichkeit, Unplanmäßiges geschehen zu lassen, überraschend positive Erlebnisse zu sammeln oder auch negative Erfahrungen zu machen. An dieser Stelle berichte ich über meine rein subjektiven Eindrücke rund um die jeweilige Auswärtsfahrt, jeweils mit ein wenig Abstand betrachtet – eine Spätlese eben!

01 Hin und weg:

Fahrten in die Stadt des ersten Deutschen Meisters im Herrenfußball von 1903 entzweien die aktiven Fanszenen der höchsten deutschen Ligen seit Jahren. Eine glückliche Fügung ließ den Kelch bisher an mir vorüber gehen, da ich vor zwei Jahren in Südafrika und letztes Jahr in Sierra Leone zeitgleich zum Auswärtsspiel in Leipzig zu Gast war. Boykottaufrufe gab es seitens der aktiven Mainzer Fanszene ohnehin nie und den Aufruf des Q-Blocks zum diesjährigen Kick, mit dem jeweils ältesten Schal nach Leipzig aufzubrechen, fand ich kreativ,subtil und jede Unterstützung wert.

Die Schalaktion war ganz großes Kino des "Vereins der tollen Typen"!
Die Schalaktion war ganz großes Kino des „Vereins der tollen Typen“!

02 (N)immer nuff

Einer meiner Mainzer Freunde, mit dem ich 1995 von der goldenen Stadt am Rhein bis nach Kapstadt fuhr, wohnt seit Jahren in Leipzig und nach dem dritten innerstädtischen Umzug mittlerweile vor dem Zentralstadion. Die WM-Arena sieht ein wenig aus, als wäre sie direkt aus dem Weltall auf das altehrwürdige „Stadion der Hunderttausend“ gefallen – dem ehemals größten Stadion Deutschlands. Oder anders ausgedrückt, die Arena hat das Zentralstadion plattgemacht. Als Gast musste von der Haustür meines Freundes erstmal ums halbe Stadion herum laufen, dann die Treppen nuff, dann die Treppen wieder runter und über eine Brücke in die Arena rein und dann nochmal runter bis zum Grund des Gästeblocks. Zurück wird das Ganze dann zur Völkerwanderung für Gäste, da diese erstmal wieder nuff müssen, um die Arena zu verlassen, nochmals nuff, um den Stadionwall zu erklimmen und diesen dann runter zum Flussufer krabbeln. Anschließend wurde es ganz absurd, denn nun musste man als Gast nach Norden ausweichen, da der Hinweg ums Stadion vor dem Abpfiff versperrt wurde. Nach 500 Metern Fußmarsch standen an einer Ausfallstraße wenigstens Shuttlebusse bereit, um den Mainzer Mob, der zum Großteil aus Familien bestand, zum Hauptbahnhof zu bringen.

Von wegen RB Arena - das "Stadion der Hunderttausend" heißt immer noch Zentralstadion
Von wegen RB Arena – das „Stadion der Hunderttausend“ heißt immer noch Zentralstadion

03 Kon-Trolle

Persönlich hatte ich keinerlei Probleme, da in Leipzig klar geregelt war, welche Kameras ins Stadion reindürfen, jene ohne Wechselobjektiv, und welche draußen bleiben müssen, jene mit Wechselobjektiv. Da der Block aber bis kurz vor Anpfiff fast leer blieb, lässt erahnen, dass die Kontrollen nicht für alle so reibungslos abliefen. Pünktlich zum Spielbeginn fanden sich aber alle Fans im Inneren des Stadions ein.

Erwartbar: Brause, aber auch anderes Catering wurde aufgefahren
Erwartbar: Brause, aber auch anderes Catering wurde aufgefahren

04 Kampf um den Mampf

Brause in allen Variationen gab es natürlich zuhauf. Das erinnerte mich ein wenig an das Coca-Cola-Museum in Atlanta, in dem alle Limonaden des Konzerns zum Probieren angeboten werden. Alkoholreduziertes lokales Ur-Krostritzer gab es allerdings auch. Das mit dem Bier ist im föderalen Deutschland so eine Sache. In manchen Stadien gibt es immer Bier, teilweise Wein(schorle) und Äppler – komischerweise meist dort, wo der ortansässige Verein eine große Tradition besitzt. In manchen Stadien gibt es im Gästeblock nie Alkohol – komischerweise meist dort, wo es mit der Tradition nicht so weit her ist. Die alkoholreduzierte Variante gibt es praktisch nie, außer in Dortmund und in Leipzig. Warum liebe Wolfsburger, Ingolstädter, Hoffenheimer könnt Ihr Euch nicht mal ein Beispiel nehmen und diesen Weg gehen? Der Gerstensaft schmeckte halbwegs nach Bier und um sich wirklich volllaufen zu lassen, müsste man wohl die gesamte Zeit am Bierstand verbringen. „Fußball, Bratwurst, Bier“ ist ein Kulturgut und warum man diesen Dreiklang in einigen Stadien pauschal allen Gästen entziehen muss, erschließt sich mir nicht wirklich. Um so löblicher, dass es die Supporters Mainz geschafft haben, zum morgigen Nachbarschaftsduell die handelnden Personen zu überzeugen, den Alkoholbann fallen zu lassen.

Lebkuchenbier oder Gose? Im Bayerischen Bahnhof gibt's beides zu genießen
Lebkuchenbier oder Gose? Im Bayerischen Bahnhof gibt’s beides zu genießen

Nachkicks können Bier-Sommerliers in Leipzig noch eine echte lokale Spezialität entdecken: Die Gose. Sie stammt ursprünglich aus dem Harz und wurde nach dem Flüsslein Gose benannt. Sie wird unter Zusatz von Milchsäure, Koriander und Salz gebraut und ist beispielsweise im Bayerischen Bahnhof Leipzigs zu genießen. Oder wäre Euch das Lebkuchenbier lieber gewesen?

Und für Katzenfreunde gibt es den Katzentempel Leipzig. Sechs Katzen aus dem Tierschutz haben hier eine neue Heimat gefunden. Wenn wir Gäste zu nervig werden, können sie sich auf vier Pfoten in den „Cat Restroom“ zurückziehen – einer Katzenklappe sei Dank. Natürlich zahlen wir für die Speisen und Getränke ein wenig mehr, schließlich müssen die Katzen ja versorgt werden. Auch auf Fleisch und Alkohol muss hier verzichtet werden – aber angetrunken durch den Katzentempel zu fallen kann sicherlich schlimmere Konsequenzen nach sich führen, als einen zuviel im Gästeblock gekippt zu haben – von daher ist hier diese Abstinenz vollkommen nachvollziehbar.

05 Käfighaltung

Die WM-Arena besitzt nur Sitzplätze. Ob das der Grund ist, dass es für den Gästeblock keine ermäßigten Plätze gab? Sprich, selbst ein Säugling hätte 16 € für einen Platz bezahlt. Auf der Heimseite gibt es hingegen Ermäßigungen für Kinder und Co. Die Bayern-Fans haben sich zurecht darüber beschwert, dass sie beim Spiel in Athen statt 15 € (wie im Heimbereich) 35 € im Gästebereich zahlen mussten (und von der UEFA Recht bekamen, da AEK jetzt wenigsten 10 € pro Fan zurückzahlen muss). Aber auch die kleinen Ungerechtigkeiten im Ligaalltag sollten mal thematisiert werden. Und wenn das umgekehrt auch bei uns so ist, dass es im Gästesitzbereich keine ermäßigten Tickets für Kinder und Babys gibt, sollte das Thema vielleicht auch mal angegangen werden.

Eine vierköpfige Familie zahlt schließlich 64 € für das Spiel, wobei die Kids vielleicht so klein sind, dass sie vom Spiel selbst gar nichts mitbekommen können. Gerade in Leipzig und Mainz setzt man gerne auf Familienfreundlichkeit, da sollte dieses Thema entsprechend gewürdigt werden.

Die Sicht vom Block aufs Geschehen wurde nur durch das obligatorische Fangnetz geschmälert. Nirgends in der Liga kommt man den Spielern wohl so nahe wie hier in Leipzig. Das war nachkicks auch wirklich eine gute Sache, denn so konnten die Nullfünfer Jungs bei dieser bitteren Kälte im Stadion mittels Capo richtig heiß gemacht werden auf das Spiel gegen die Diva vom Main.

Tolles Projekt: Der Katzentempel Leipzig
Tolles Projekt: Der Katzentempel Leipzig

Fazit: Der Jahrgang 2018/2019 ähnelt einem Federweißer: sehr jung, manche würden sagen traditionsfrei, süß und klebrig und was den Alkohol angeht eine gewisse Wundertüte. Ein solch austauschbares Konstrukt hat die wunderbare Stadt eigentlich nicht verdient, aber so lange es auf der (Spielplan)Karte steht, macht man das Beste draus und genießt zusätzlich eine tolle Zeit außerhalb des Stadionwalls – zum Wohl!