6 Fakten rund um eine (Mallorca-)Flugreise

Es gibt aktuell sicherlich gute Gründe nicht ins „17. Bundesland der Deutschen“ auf die spanische Mittelmeerinsel zu fliegen. Beispielsweise müssen viele Menschen, die 2020 zu Kurzarbeit gezwungen waren, zum ersten Mal überhaupt eine verpflichtende Einkommenssteuererklärung für das Pandemiejahr 2020 abgeben. In den meisten Fällen erwartet sie eine Steuernachforderung in Höhe von mehreren hundert Euro. Andere Menschen haben seit einem Jahr kaum noch Aufträge und wieder andere häufen seit einem Jahr Überstunden en masse an. Sprich, viele Menschen können sich aus finanziellen oder zeitlichen Gründen aktuell gar keine Urlaubsreise leisten. Oder ganz einfach: Menschen haben Angst, sich und andere anzustecken. Außerdem möchten viele Menschen aus Klimaschutzgründen insbesondere auf Kurz- und Mittelstreckenflüge verzichten und lieber Urlaub in der Heimat machen.

Gerade letztere haben allerdings seit fünf Monaten keine Möglichkeit, mal in einer Ferienwohnung in den bayerischen Alpen oder an Nord- oder Ostsee auszuspannen. Touristische Reisen sind in Deutschland seit Anfang November 2020 verboten – Geschäftsreisen allerdings weiterhin erlaubt. Damit ist Deutschland das einzige Land weltweit, das Inlandstourismus komplett verbietet, wenn dieser nicht aufgrund eines kompletten Shutdowns als Nebeneffekt zum Erliegen gekommen ist.

Bucht und Strand auf Mallorca – Bildquelle: Pixabay

Gleichzeitig macht das Auswärtige Amt einen guten Job. Seit dem 1. Oktober 2020 gibt es Covid-19- bedingte Updates zu den fast 200 Ländern dieser Welt heraus. Wäre das nicht schon Arbeit genug, unterteilt es insbesondere in Europa noch in Provinzen, Regionen etc., um eine möglichst genaue Abbildung der Risiken für Auslandsreisende in Zeiten der Pandemie hinzubekommen. Ob für ein Land oder eine Region eine „Covid-19-bedingte Reisewarnung“ erstellt wird, hängt vom Inzidenzwert ab. Überschreitet er die Zahl der Neuansteckungen von 50 pro 100 000 Einwohner in den letzten 7 Tagen geht es in Richtung Reisewarnung. Es gibt allerdings noch weitere Kriterien, die das Auswärtige Amt nicht nennt und die damit das ganze Verfahren etwas politisieren.

Schließlich hatten die Ballearen-Inseln bereits seit Wochen eine Inzidenz von unter 25 vorzuweisen – galten aber immer noch als Risikogebiet, wie der Rest Spaniens auch. Daher war es ein logischer Schritt, diese Teil-Reisewarnung irgendwann zurückzunehmen, genau wie es die Verantwortlichen bereits seit Oktober für zahlreiche andere Regionen der Welt gemacht haben. Allerdings sind Reisen in die meisten Nicht-Risikogebiete aktuell nicht möglich, weil es entweder keine Flugverbindungen dorthin gibt, deutsche Touristen nicht in diese Länder hineingelassen werden, eine 14-tägige Quarantäne oder ausgedehnte Ausgangssperren die Urlaubsfreude drücken. All dies ist im Falle Mallorcas nicht der Fall. Dass Spanier*innen während der Ostertage nicht dorthin reisen dürfen, Deutsche aber schon, ist einer der vielen bizarren Fakten, die uns seit einem Jahr um die Ohren fliegen.

Es war absehbar, dass trotz der oben genannten Gründe, die womöglich gegen eine Reise nach Mallorca sprechen, es jetzt viele Menschen dorthin zieht. Das wiederum hat einen Sturm der Empörung in den sozialen Netzwerken ausgelöst. Die Urlaubenden seien „unsolidarisch“ waren noch vergleichsweise harmlose Beschimpfungen.

Wie beim Virus selbst gilt es, das Bauchgefühl auszuschalten und sich anhand von Fakten seine Meinung zu bilden:

1. Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts zum Thema Reisen

„Hierbei ist es wesentlich zu betonen: erhöhte Mobilität (berufliche oder private Reisetätigkeit) bedeutet erweitertes Risiko; jedoch ist dieses Risiko nicht primär an den Ort der Reise oder ein spezifisches Gebiet gebunden, sondern hängt wesentlich von dem Verhalten des Einzelnen in einem Gebiet mit Virusübertragungen ab.“

Robert-Koch-Institut vom 23. Oktober 2020

Sprich nicht das Reisen an sich ist gefährlich, sondern das Verhalten der Menschen. Das gilt allerdings grundsätzlich, ansonsten hätten wir in Deutschland nicht täglich tausende von Neuinfektionen.

2. Epidemiologisches Bulletin des Robert-Koch-Instituts

„Dies kann zum einen darauf zurückzuführen sein, dass es auf Reisen in häufige Urlaubsländer zu weniger intensiven Kontakten mit der einheimischen Bevölkerung kam, und damit zu einem geringen Ansteckungsrisiko im Verhältnis zu den Inzidenzen des Reiselandes, z.B. im Gegensatz zu Personen, die zu Familienbesuchen in ihre Herkunftsländer reisten“.

Robert-Koch-Institut vom 25. Februar 2021

Sprich Urlaubsreisende, die in Ferienwohnungen oder Hotels mit Hygienekonzept übernachten, stecken sich seltener an als Menschen, die ihre Verwandten in der Heimat besuchen und dort womöglich im selben Haus übernachten. Und womöglich stecken sich Menschen, die über Ostern verreisen, auch weniger an, als bei der privaten Feier beim Nachbarn oder im Familienkreis.

3. Verpflichtender Corona-Test vor dem Abflug nach Mallorca

Die Zeiten, in denen wir mit ein paar Klicks einen Kurztrip gebucht haben und kurze Zeit später bereits im Flieger saßen sind erstmal vorbei. Um nach Mallorca einreisen zu dürfen, ist ein negativer Corona-PCR-Test notwendig, der innerhalb der letzten 72 Stunden vor der Ankunft in Mallorca durchgeführt wurde. Selbstredend werden Selbsttests aus dem Supermarkt oder Schnelltests, bei denen das Ergebnis innerhalb von 15 Minuten vorliegt, nicht akzeptiert. Der PCR-Test gilt aktuell als das zuverlässigste Mittel, Infizierte zu entdecken.

4. AHA-Regeln am Flughafen und im Flugzeug

Am Flughafen selbst gelten natürlich Abstands- und Hygieneregeln. Das Tragen einer chirurgischen Maske oder einer FFP2-Makse ohne Ventil ist seit Februar 2021 Pflicht. Alltagsmasken werden seither nicht mehr akzeptiert. Diese Pflicht gilt sowohl an den deutschen Flughäfen als auch an Bord von deutschen Flugzeugen, wie auch z.B. in französischen Flugzeugen/Flughäfen. Bei den anderen Airlines und den meisten Flughäfen weltweit gilt zumindest die Pflicht, Alltagsmasken zu tragen.

5. Die HEPA-Filter im Flugzeug

„Doch Flugzeuge sind keine Infektionsherde. Die Luft in einem Flugzeug ist so rein wie in einem Operationssaal.“

Deutsche Apother-Zeitung vom 14. September 2003

Dieses Zitat stammt von keiner Fluggesellschaft oder von Airbus bzw. Boeing. Es hat die Deutsche Apotheker-Zeitung im Jahr 2003 verfasst, als damals SARS auftrat. Der Vergleich mit dem Operationssaal ist vielleicht etwas unpassend, da sich in einem OP-Saal sicherlich nicht 100 oder mehr Menschen befinden, aber die Chance, sich in einer Passagierkabine anzustecken, in der permanent darauf geachtet wird, dass außer beim Essen und Trinken die Maske korrekt aufgesetzt bleibt, ist sicherlich gering. In den wenigen Fällen, in denen eine Übertragung nachgewiesen wurde, z.B. bei einem 14-Stunden-Flug von Dubai nach Auckland in Neuseeland, kam später heraus, dass beim Tankstopp in Kuala Lumpur die Klimaanlage (und damit das Filtersystem) ausgeschaltet war und es keine Maskenpflicht gab. Der Flug nach Mallorca dauert 2 Stunden, so lange wie eine Bahnfahrt von Mainz nach Köln in einem IC, bei dem keine HEPA-Filter im Einsatz sind.

6. Die Corona-Regeln auf Mallorca

Die Balearen-Insel hat allgemeine Regeln aufgestellt, die einiges zulassen, nur keine hemmungslosen Saufgelage. Restaurants schließen um 17 Uhr, im Hotelzimmer dürfen nur Personen aus demselben Haushalt übernachten, an Stränden dürfen sich Personen aus maximal zwei Haushalte zusammen aufhalten. An einem Restaurant-Tisch dürfen maximal vier Personen aus zwei Haushalten zusammensitzen. Der Verkauf alkoholischer Getränke an Kiosken und in Supermärkten ist zwischen 21.30 Uhr und 8.00 Uhr verboten, ebenso wie Happy Hours, Flatrate-Saufen und ähnliche „Angebote“. Ab 22.00 Uhr existiert eine Ausgangssperre.

Laut „Mallorcamagazin“ wurde mittlerweile auf der Insel bei einem Test die brasilianische P.1-Variante entdeckt. Daraufhin erhielt der Shitstorm, den Mallorca-Reisende aktuell erleben, eine zweite Welle. Dass es aktuell aber möglich ist, von Brasilien nach Deutschland zu fliegen, haben wahrscheinlich die wenigsten Kritkger*innen auf dem Schirm. So lange Einreisen aus Brasilien möglich sind, so lange braucht die Mutante P.1 den Umweg über Mallorca gar nicht zu nehmen. Schließlich reicht ein negativer PCR-Test vor dem Abflug aus Brasilien aus, um die Reise nach Deutschland anzutreten. Ob die Quarantäneverpflichtung eingehalten wird, hängt vom Gesundheitsamt vor Ort ab. Darauf haben aber Mallorca-Reisende keinen Einfluss. Außerdem ist die Mutante P.1 längst in Deutschland angekommen ohne einen Zwischenstopp in Mallorca eingelegt zu haben.

Es ist meiner Meinung nicht gut für Demokratie und Gesellschaft, Menschen für etwas zu kritisieren, was explizit erlaubt ist. Natürlich gibt es kein Recht auf Urlaubsreisen. Diese werden allerdings seit einem Jahr ziemlich reglementiert, was durchaus seinen Sinn haben kann. Wer eine Reise nach Mallorca bucht, hält sich allerdings per se an geltendes Recht und die anzuwendenden Regeln, unterstützt im besten Fall mit dem Geld Branchen, denen es aktuell gar nicht gut geht und Menschen in Mallorca, die anders als wir in Deutschland auf keine so ausgebaute staatliche Unterstützung bauen können.

Wer jetzt fordert, dass Mallorca-Reisende nach ihrer Rückkehr in Quarantäne müssen, obwohl die Region kein Risikogebiet ist, gefährdet die bisherige Glaubwürdigkeit des Auswärtigen Amts, das mit dem Bundesgesundheitsministerium und dem Innenministerium die Länder und Regionen in Risikogebiete einteilt. Warum dann keine Quarantäne bei Einreise aus Malaysia oder den Bahamas, die auch keine Risikogebiete mehr sind? Es bleibt abzuwarten, ob Mallorca am Freitag wieder auf der Liste der Risikogebiete landet, damit die Quarantäneforderungen befriedigt werden. Ob diese dann juristisch haltbar bleiben sei dahingestellt, da es bereits Urteile gibt, die eine Quarantäneverpflichtung für Reiserückkehrende aus einfachen Risikogebieten als zu starken Eingriff in die Freiheitsrechte ansehen. Gut, dass in Deutschland noch Gewaltenteilung herrscht und es die Judikative ist, die Entscheidungen der Exekutive wieder einfängt.

Neid und Missgunst sind nie ein guter Ratgeber – auch in Zeiten der Pandemie nicht. Gleiches gilt übrigens auch für Populismus.

Quellen:

  1. Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts zum Thema Reisen
  2. Epidemiologisches Bulletin des Robert-Koch-Instituts
  3. Die Regeln für die Einreise un den Aufenhalt auf Mallorca
  4. AHA-Regeln an deutschen Flughäfen und an Bord deutscher Airlines
  5. HEPA-Filter im Flugzeug
  6. Mallorcamagazin vom 12. März 2021
  7. Bild von 4634656 auf Pixabay

Raus aus der Deutschland-Blase

„Was? Jetzt auf Reisen gehen?“ „Ist das nicht verboten?“ – das war das Feedback, das wir im November erhielten, als wir unserem Umfeld mitteilten, dass wir tatsächlich für das Jahr 2020 noch Reisepläne hatten.

Während das Reisen für manche von uns schlicht Urlaub bedeutet, sind andere Menschen aufgrund ihres Berufs teilweise gezwungen, geschäftlich zu reisen. Wieder andere Menschen haben Verwandte in anderen Regionen Deutschlands, im Ausland oder sogar auf einem anderen Erdteil sitzen. Weder Geschäftsreisen noch Verwandtenbesuche fallen somit in die „Spaß-Kategorie“, in die eine Urlaubsreise natürlich hineingehört. Und in Zeiten der Pandemie wird in solchen Kategorien gedacht.

Das Robert-Koch-Institut nimmt zum Thema „Reisen“ in seiner „Strategie-Ergänzung“ Stellung.

Aufgrund der Tatsache, dass bei uns seit Anfang November alle Bereiche, die der „Spaß-Kategorie“ zuzuordnen sind, geschlossen sind, liegt natürlich die Schlussfolgerung nahe, dass auch Reisen an sich verboten sind. Allerdings gilt dies nur für touristische Reisen, die, wie bereits erwähnt, der „Spaß-Kategorie“ zuzuordnen sind. Gleichzeitig gilt dieses Verbot nur für das Inland. Denn, anders als es manche Zeitgenossen behaupten, haben wir Deutsche immer noch die Freiheit uns zu bewegen – natürlich auch ins Ausland. Gerade im Ausland schreibt uns der deutsche Staat überhaupt nicht vor, wie wir uns verhalten sollen. Allerdings gibt es natürlich Vorgaben des Gastlands, die teilweise härter sind als in Deutschland, was Masken-Verweiger*innen hart treffen kann.

Trotzdem appellieren viele Menschen aktuell daran, nicht zu reisen. Diese Appelle sind so lange vollkommen in Ordnung, so lange nicht irrtümlich behauptet wird, dass Reisen aktuell ja gar nicht möglich oder gar verboten sind. Das Robert-Koch-Institut bringt es in seiner „Strategie Ergänzung zu Die Pandemie in Deutschland in den nächsten Monaten – Ziele, Schwerpunktthemen und Instrumente für den Infektionsschutz“ auf den Punkt: „Hierbei ist es wesentlich zu betonen: erhöhte Mobilität (berufliche oder private Reisetätigkeit) bedeutet erweitertes Risiko; jedoch ist dieses Risiko nicht primär an den Ort der Reise oder ein spezifisches Gebiet gebunden, sondern hängt wesentlich von dem Verhalten des Einzelnen in einem Gebiet mit Virusübertragungen ab.“

Sprich, natürlich ist die beste Möglichkeit, sich und andere in der Pandemie zu schützen, sich abzusondern. Allerdings ist das in der Praxis unmöglich. Wir alle müssen einkaufen gehen – denn die Inanspruchnahme von Lieferdiensten ist für die meisten von uns über Monate hinweg schlicht nicht bezahlbar. Unentgeltliche Hilfe anzunehmen, z.B. durch Fußballfans, die so etwas in Mainz organisieren, sollte denjenigen vorbehalten bleiben, die zu einer Risikogruppe gehören. Also ist es zunächst einmal unmöglich, sich komplett zu isolieren. Auf die psychischen Folgen einer solchen Isolation gehe ich gar nicht erst ein. Und Homeoffice dürfen auch nicht alle machen.

Dennoch ist es gerade vollkommen hip, sich einzuigeln und davon vorzugsweise in den sozialen Netzwerken zu berichten: zu Hause, in der eigenen Stadt, in der eigenen Region, im eigenen Land. Natürlich ist es richtig, seine Kontakte zu reduzieren, wo immer das möglich ist, um Übertragungswege zu vermeiden. Natürlich ist es gut für die Umwelt, wenn wir regional einkaufen – dabei aber am besten zu Bio-Produkten zu greifen, die vegan sind. Gerade der letzte Punkt stößt bei vielen Menschen auf keine große Gegenliebe. Da sind wir bei einer Gabe angelangt, die viele Leute gerade in den sozialen Netzwerken in sich tragen: Das Missionieren. Ich halte davon sehr wenig, da sich Menschen nicht gerne vorschreiben lassen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Vielmehr sollte sich eine innere Überzeugung entwickeln, gegebenenfalls sein Verhalten zu verändern. Natürlich muss es in einem Staat auch Sanktionen geben, aber gerade in der Pandemie ist es wichtig, dass man ein Verhalten an den Tag legt, von dem man überzeugt ist, dass es sinnvoll ist, sich und andere zu schützen.

Nimmt man nun die oben genannten Aussagen des Robert-Koch-Instituts und kombiniert diese damit, dass man selbst davon überzeugt ist, dass die AHA-Regeln (Abstand halten, Hygiene und Alltagsmasken) sinnvoll sind, steht meiner Meinung nach einer Reise zunächst nichts im Wege. Da touristische Reisen innerhalb Deutschlands verboten sind, ist es nur logisch, gegebenenfalls eine Reise ins Ausland anzutreten. Diese Entscheidung muss jede*r selbst treffen. Dass sich Menschen womöglich gegen eine touristische Reise raus aus Deutschland entscheiden, ist absolut verständlich. Wir können uns glücklich schätzen, dass bisher unser Gesundheitssystem nicht überlastet wurde, und es zu keiner Triage gekommen ist, bei der Ärzte entscheiden müssen, wem geholfen werden kann und wem nicht. Natürlich kann man sich im Ausland nicht sicher sein, dass man auf ein solch robustes Gesundheitssystem trifft. Und natürlich sollte man als Reisende dieses System auch erst gar nicht zusätzlich belasten. Aus diesem Grund eine Reise nicht anzutreten ist sehr honorig. Dieses Argument gilt jedoch auch in Zeiten außerhalb einer Pandemie.

Allerdings habe ich das Gefühl, dass wir uns gerade hauptsächlich mit uns selbst beschäftigen – mit uns selbst als Deutschland. Wir fokussieren uns in der Pandemie auf unsere Umgebung und unser Land. Das ist natürlich vollkommen in Ordnung. Aber der Begriff Pandemie drückt es ja schon aus. Diese betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch unsere Nachbarländer und sogar andere Kontinente. Wir sind natürlich alle eingeschränkt. Manche von uns sogar extrem, was die wirtschaftliche Situation angeht, wenn man Solo-Selbständige*r ist. Aber es gibt sicherlich Menschen im Ausland, die die Pandemie härter trifft als die meisten von uns. Das wird aktuell in nahezu allen Diskussionen vergessen. Leider reicht manchmal der Blick der Empörten nur an den Rand des besagtenTellers – im besten Fall bis nach Moria, wo viele Flüchtlinge in noch größerem Elend leben, als vor dem Brand des Flüchtlingslagers im Oktober. Es ist gut, dass es bei uns so viele Menschen gibt, die sich für die Geflüchteten dort einsetzen. Aber ist es nicht auch gut, sich gegebenenfalls für Menschen einzusetzen, die sich eine Flucht erst gar nicht leisten können und in ihrer Heimat unter der Pandemie leiden?

„Risikogebiete“ im Ausland werden auf der Seite des Robert-Koch-Instituts ausgewiesen

Die Spendenbereitschaft ist aktuell unter den Bundesbürger*innen immer noch hoch – sie lag zumindest im Sommer laut Tagesschau sogar höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Dabei wird vor allem gerne für Projekte vor Ort gesammelt und gespendet, sei es für gemeinnützige Organisationen oder für die schwächsten der Gesellschaft. Schließlich bekommt man das Elend vor der eigenen Haustür direkter mit, als das von Menschen auf anderen Erdteilen. Dies korreliert auch mit entsprechender Empathie: Umstände, mit denen wir direkt konfrontiert werden, machen uns eher betroffen als die Not, die wir nur mit Hilfe von fundierten Beiträgen durch Journalisten, Blogger*innen, Freund*innen oder vom Hörensagen her mitbekommen. Und gleichzeitig kann diese Gabe in der Pandemie auch sehr gefährlich sein. Die Schwachen der Gesellschaft sind ein Teil unserer Gemeinschaft, genauso wie unsere Freunde, Kolleg*innen und Verwandte. Diese bekannten Kontakte stuft man unwillkürlich oft als ungefährlich ein. Das Virus unterscheidet aber nicht zwischen guten und schlechten oder bekannten und unbekannten Kontakten.

Daher bietet das Reisen sogar einen gewissen Selbstschutz: Alle sind fremd und man geht unwillkürlich auf Distanz. Im Kreise der Lieben ist es tatsächlich schwer, diese Distanz zu halten. Daher ist es auch so schwierig, die Ansteckungen aktuell zu reduzieren. Dadurch sind wir in Deutschland selbst zu einem so genannten „Risikogebiet“ geworden. Das Robert-Koch-Institut schreibt in seiner „Informationen zur Ausweisung internationaler Risikogebiete durch das Auswärtige Amt, BMG und BMI“ dazu: „Die Einstufung als Risikogebiet erfolgt nach gemeinsamer Analyse und Entscheidung durch das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. Die Einstufung als Risikogebiet basiert auf einer zweistufigen Bewertung. Zunächst wird festgestellt, in welchen Staaten/Regionen es in den letzten sieben Tagen mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gab. In einem zweiten Schritt wird nach qualitativen und weiteren Kriterien festgestellt, ob z.B. für Staaten/Regionen, die den genannten Grenzwert nominell über – oder unterschreiten, dennoch die Gefahr eines nicht erhöhten oder eines erhöhten Infektionsrisikos vorliegt.“.

In Deutschland lag der Wert Mitte Dezember bei mehr als 150 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner. Natürlich gibt es regionale Unterschiede in Deutschland, was diesen Wert anbetrifft, aber zumindest für meinen Wohnort Mainz trifft die Definition „Risikogebiet“ seit Wochen zu. Natürlich können die deutschen Behörden nicht für jedes Land der Welt eine regionale Abstufung vornehmen. Folglich werden Länder pauschal zu Risikogebieten erklärt, bei denen es natürlich Regionen geben kann, in denen die Fallzahlen teilweise geringer sind als in Deutschland. Um zu vermeiden, dass Reiserückkehrer*innen andere Menschen anstecken, müssen Reiserückkehrer*innen aus Risikogebieten seit November für zehn Tage in Quarantäne. Diese Maßnahme sorgt zusätzlich dafür, dass von Reisenden für Deutschland keine größere Gefährdung durch eine Ansteckung ausgeht. Somit laufen Parolen „Wir bleiben zu Hause“ ins leere, wenn sie Menschen, die ins Ausland reisen, entgegengehalten werden. In der Zeit, in der man sich im Ausland in einer Region mit niedrigeren Fallzahlen als zu Hause befindet, sich an die AHA-Regeln hält und Kontakte vermeidet, sorgt man dafür, das Ansteckungsrisiko zu vermindern. Dadurch zeigt man sich unweigerlich solidarisch mit der Gesellschaft zu Hause in Deutschland. Das mag nicht jeder und jedem Gefallen, aber sind es nicht am Ende die Fakten, die zählen sollten und nicht das pure Bauchgefühl?

Aufräumen im eigenen Kopf

Eigentlich ist rein biologisch gesehen alles ganz einfach. Wir sind irgendwann auf diesem Planeten geboren worden. Diese Gemeinsamkeit haben wir alle auf unserer Erde. Die zweite Gemeinsamkeit: Irgendwann gehen bei uns allen die Lichter wieder aus.

Das war es allerdings mit den Gemeinsamkeiten auch schon. Das, was zwischen Geburt und Tod liegt, nennen wir bei Pflanzen, Tieren und Menschen Leben. Das Leben der Pflanzen und der Tiere klammere ich dieses Mal bewusst aus, obwohl es natürlich angebracht ist, diese Lebewesen zu respektieren, zu schützen und sich für sie einzusetzen – alleine schon deswegen, damit wir und unsere Nachkommen eine lebenswerte Welt vorfinden.

Wir Menschen sind bei der Geburt alle gleich. Kein Kind kommt mit einer implementierten Kreditkarte ohne Limit oder einer eingeimpften Staatsbürgerschaft auf die Welt. Wir alle erblicken mehr oder weniger auf dieselbe Art und Weise das Licht der Welt. In eben jenem Moment allerdings gelten bereits Konventionen, die nicht natürlich sind, sondern von Menschen festgelegt wurden.

Welchen Sechser die meisten von uns im „Geburtslotto“ hatten, ist uns sicher nicht immer bewusst. Als Deutsche Staatsbürger haben wir seit unserer Geburt zahlreiche Privilegien, die uns in die Wiege gelegt wurden – ohne unser Zutun. Wir hätten auch Staatsbürger eines der anderen fast 200 Länder dieser Welt werden können. In den meisten Fällen wäre damit der Start ins Leben wahrscheinlich schwieriger ausgefallen. Das fällt mir aktuell wieder ein, da wir uns aufgrund der Pandemie in einer Ausnahmesituation befinden: Als Deutsche haben wir eine Bewegungsfreiheit ohne Gleichen. Wir können die meisten Ziele dieser Welt besuchen, ohne begründen zu müssen, warum wir uns dorthin begeben möchten. Länder, Grenzen, Staatsbürgerschaften sind nicht einfach so vom Himmel gefallen. Manche Ländergrenzen wurden von Menschen mit dem Lineal gezogen. Für die meisten Menschen auf unserer Welt ist das Passieren einer Grenze ein Ding der Unmöglichkeit. Die älteren unter uns können sich noch an die innerdeutsche Grenze erinnern. Wollte man sich von Thüringen nach Bayern begeben, war das bis 1990 womöglich ein Todesurteil. Das ist gerade mal 30 Jahre her – doch im Vergessen und Verdrängen liegt eine unserer Kernkompetenzen. Möchten Menschen ihren aktuellen Wohnsitz verlegen, z.B. von Aleppo nach Mainz, dann scheitert das nicht daran, dass ein Ozean dazwischenliegt, sondern daran, dass wir Menschen Grenzen gezogen haben, die das verhindern. Ich durfte diese 1995 in umgekehrter Richtung relativ einfach passieren. Als Deutscher konnte ich mit dem Zug problemlos nach Österreich fahren. Ich bekam ein Visum für Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgestellt. Die Türkei ließ mich mit dem deutschen Pass ohne zusätzlichen Papierkram einreisen und auch für Syrien bekam ich, dem Bundesadler auf dem Pass sei Dank, das Visum problemlos ausgestellt. Ich galt als Tourist – jemand, der aktuell die umgekehrte Route mit einem syrischen Pass nimmt, gilt als Flüchtling. Definiert haben das Menschen – nicht Mutter Natur. Selbstverständlich wollte ich nur ein paar Tage in Syrien bleiben und umgekehrt möchte jemand, der bei uns Schutz sucht, so lange bleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Es geht bei dem Beispiel einfach darum zu zeigen, dass ein Stück Papier einen großen Unterschied macht – obwohl die Menschen biologisch gesehen nichts unterscheidet.

Voneinander lernen, wie hier in Sierra Leone, ist vielleicht das beste Mittel gegen Rassismus.

Kommen wir in Deutschland auf die Welt, ist die Chance relativ hoch, die ersten Tage zu überleben. Die Kindersterblichkeit ist weltweit von Land zu Land unterschiedlich. In Singapur, Island, Japan, Monaco und Slowenien liegt sie bei 2 Todesfällen pro 1000 Lebendgeborene, bei uns in Deutschland bei 3 und im Tschad bei 72, im Niger bei 79, in der Zentralafrikanischen Republik bei 84, in Somalia bei 93 und in Afghanistan bei 109. Natürlich herrscht in den letztgenannten Ländern ein anderes Klima. Das ist sicherlich noch nicht menschengemacht (wird es aber zunehmend, wenn uns Tiere und Pflanzen weiter egal sind). Die hohe Kindersterblichkeit liegt darin nicht begründet. Vielmehr ist sie darauf zurückzuführen, dass in all diesen Ländern Bürgerkriege die letzten Jahrzehnte geprägt haben. Diese Kriege sind kein Gesetz der Natur, sondern wurden von Menschen vom Zaun gebrochen. Die Gründe liegen teilweise einhundert Jahre zurück – z.B. in der willkürlichen Grenzziehung nach dem ersten Weltkrieg. Sofern wir jünger als 75 sind, ist die Chance relativ groß, dass wir noch nie einen Krieg miterleben mussten. Dass seit 1945 in Mitteleuropa Frieden herrscht, sehen wir oft als „natürlich“ an. Auf meiner Reise 1995 nach Syrien musste ich mich in Budapest entscheiden, ob ich über Belgrad oder Bukarest nach Istanbul reisen wollte. Niemand konnte mir in meinem Mainzer Reisebüro sagen, wie ich auf dem Landweg in die Metropole am Bosporus gelangen konnte. Daher besaß ich auch ein Visum für Rest-Jugoslawien. Von einer Reise dorthin wurde mir aber damals vom Auswärtigen Amt mittels der mittlerweile bekannten Reisewarnung abgeraten – weil in dieser Region gerade Krieg herrschte – eine Tages- und Nachtzugfahrt von Mainz entfernt. Das ist gerade mal 25 Jahre her und geographisch gesehen ebenfalls nicht sehr weit weg von uns.

Sprich – auf das Timing der Geburt kommt es an. Vor 1945 in Deutschland geboren worden zu sein, war nicht der oben genannte Sechser im Lotto. Und vor 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik geboren worden zu sein, vielleicht auch nicht. Ich schreibe „vielleicht“, weil ich es nicht miterlebt habe, das Leben in der DDR. Allerdings habe ich, seit ich denken konnte, mit dem Wort „DDR“ etwas assoziiert. Ich habe im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung über dieses Land etwas erfahren. Gespräche in der Familie über die DDR gab es kaum, weil wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Durch all die Einflüsse hat sich in meinem Kopf ein Bild der DDR geprägt. Es zeigt, dass ich nicht unvoreingenommen dieser DDR gegenübertrat. Ich habe Staatsbürger der DDR vor der Wende meines Wissens gar nicht getroffen. Trotzdem hatte ich mir ein Bild gemacht und in meinem Hirn etwas zu „DDR“ und den Menschen, die dort lebten, „abgelegt“.

Die Festung in Dakar, Senegal ist ein Relikt des Sklavenhandels – von hier wurden Schwarze Menschen nach Amerika verschifft. Der Spruch auf der Stehle blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.

Neben der „richtigen“ Staatsbürgerschaft und dem „richtigen“ Timing gibt es einen weiteren Faktor bei der Geburt, der den Start ins Leben massiv beeinflusst. Die bereits angesprochene imaginäre „implementierte Kreditkarte“ ohne Limit. Vor dem Gesetz sind wir Menschen in Deutschland alle gleich. Doch bei der Geburt entscheidet sich schon manchmal der gesamte Lebensweg. Qua Geburt sind wir bereits Erben. „Die Bundesrepublik gehört immer noch zu den OECD-Staaten, in denen der Schulerfolg eines Kindes deutlich enger vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt als in vielen anderen Ländern, sagt Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor.“ (Spiegel, vom 23.10.18) . Will sagen dass der Schulerfolg bei uns sehr wohl davon abhängen kann, ob man in eine finanziell gut ausgestattete Familie, bei der die Eltern Akademiker sind, hineingeboren wird, oder ob man in einer Familie aufwächst, die nicht so viel Kohle hat und in der die Eltern womöglich kein Abitur gemacht haben. Es macht auch einen Unterschied, mit welchem Geschlecht wir auf die Welt kommen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein hehres Ziel aber noch lange nicht erreicht.

Mit den bisherigen Zeilen wollte ich ausdrücken, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass wir so ein Leben führen, wie wir es aktuell führen – im Positiven wie im Negativen. Die Liste der oben genannten Beispiele ist sicher nicht abschließend. Jeder von uns hat Probleme und das Leben stellt uns jeden Tag vor neue Herausforderungen – das gilt für alle Menschen weltweit. Vielleicht haben die Beispiele gezeigt, dass es Wert ist, die eigene Situation neu zu betrachten. Durch den Ausbruch von Corona hat sich das Leben von uns allen verändert. Wir mussten in unserem Alltag Änderungen notgedrungen vornehmen. Wir haben aber auch gelernt, uns und andere zu schützen. Wir haben als Gemeinschaft gezeigt, dass wir bereit sind zu lernen, dass wir Änderungen in unserem Verhalten vornehmen können.

Wir können die Welt in ihrer Gesamtheit nicht „retten“. Wir können uns für die Schwachen der Gesellschaft engagieren, für die Gleichstellung der Geschlechter, für faire Arbeitsbedingungen, für das Klima und die Natur u.v.m. Das ist alles löblich und ich habe großen Respekt vor den Menschen, die sich jeden Tag dafür einsetzen, dass die Welt einen Tick „besser“ wird.

Ich erwarte so ein Engagement von Menschen für andere nicht – gerade weil viele Menschen auch in Deutschland große Probleme haben. Natürlich haben die eigenen Probleme Priorität. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir jeden Menschen nach seinem Handeln und Denken beurteilen sollten – nicht nach Staatsbürgerschaft, Alter, Geschlecht oder finanziellem Hintergrund. Aber das ist leider die graue Theorie. Schließlich gibt es da noch etwas, was uns Menschen unterscheidet: Die Hautfarbe.

Wenn man wie ich Rassismus nie erlebt hat, ist es fast unmöglich, nicht selbst das eine oder andere Mal in rassistische Denkmuster zu verfallen. Wer die bisherigen Zeilen gelesen hat, beweist Ausdauer. Diese Ausdauer kostet Zeit. Diese ist meiner Meinung auch notwendig, um „Rassismus [zu] entlernen“, wie Aminata Touré, Landtagsvizepräsidentin in Schleswig-Holstein sagt. Wir sollten „entlernen“, vielleicht sogar unbewusst, rassistisch zu agieren. Wir sollten Zeit investieren, um Artikel von Menschen zu lesen, die selbst von Rassismus betroffen sind und anschaulich beschreiben, wie Rassismus unterschwellig in unserem Alltag vorkommt – oft ungewollt und nicht so platt, dass jede*r bemerkt, um was es sich da gerade handelt. Ferner ist die Bereitschaft notwendig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das einen selbst gar nicht unmittelbar betrifft.

Ich habe die vorletzte Woche den Text von Alice Hasters im Deutschlandfunk gelesen „Warum weiße Menschen so gerne gleich sind“. Sie zeigt zahlreiche Ansätze auf, mit denen wir unser eigenes Denken und Handeln hinterfragen können. Zunächst einmal geht es um die Definition von Rassismus. Sie zitiert den amerikanischen Rassismusforscher Ibram X. Kendi, der Rassismus als „Jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet.“ definiert.

Diese Definition muss nach Hasters Meinung allerdings konkretisiert werden. Auf meinen Reisen durch Westafrika konnte ich an vielen Stellen koloniale Spuren des Rassismus an den Küsten des Senegals und Benins entdecken. Hier sind hunderttausende Schwarze Menschen verschifft worden, um in Amerika als Sklaven zu arbeiten. Organisiert wurde der Handel von Weißen, die sich den Schwarzen Menschen schlicht überlegen fühlten. Sie konstruierten „Rassen“ aufgrund der Hautfarbe. Daher ist die aktuelle Diskussion um das Entfernen des Wortes „Rasse“ aus dem Grundgesetz auch so wichtig – es gibt schlicht keine unterschiedlichen Rassen von Menschen. „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ stellt die Deutsche Zoologische Gesellschaft in ihrer Jenaer Erklärung fest.

Eine „Norm“ bei Menschen aufzustellen ist abwegig. Daher kann der weiße Mensch auch keine Norm sein.

 „Weiße Menschen haben die Theorie etabliert, dass Charaktereigenschaften, kulturelle und soziale Fähigkeiten mit biologischen Merkmalen zusammenhängen. Dieses System nennt sich White Supremacy – Weiße Vorherrschaft.“ so Hasters. Dieses Denken wurde in den letzten Jahrhunderten etabliert. Sklavenhandel wurde mit der Zeit weltweit fast überall verboten und auch der Kolonialismus ist seit nunmehr 50 Jahren mehr oder weniger passé. Doch es kommt auf das Denken und Handeln von uns an. Papier ist geduldig. Wir sollten uns selbst fragen, ob wir auf einen uns unbekannten Schwarzen Menschen, der uns begegnet, genauso reagieren, wie auf einen Weißen. Es muss unerträglich sein, jeden Tag auf der Straße anders angeschaut zu werden, als andere Mitbürger*innen. Hasters beschreibt diese so genannte „Mikroaggression“ als „Mückenstiche“. Wie die Reaktion auf Schwarze Menschen ausfällt ist ihrer Meinung nach zunächst unerheblich. „Rassismus ist nicht erst Rassismus, wenn er böse gemeint ist“. Dabei geht es auch um vermeintliche Komplimente, wenn Leute in ihre Haare fassen möchten, weil diese „anders“ sind. Das Aufstellen einer Norm (weißer Mensch ohne Kraushaar) wirkt auf Schwarze Menschen ausgrenzend. 1999 war ich mit einer blondhaarigen Freundin in Westafrika unterwegs. Viele Kinder sind vor ihr weggerannt, weil sie einen Menschen mit blonden Haaren noch nie gesehen haben. Wir haben das damals als lustig empfunden, gerade auch weil die Erwachsenen gelacht haben und die Situation dazu einlud, ins Gespräch zu kommen. Aber wenn tagtäglich Menschen vor mir eine solche Reaktion zeigen, kann ich die von Hasters erwähnten „Mückenstiche“ nachempfinden.

Wenn ich bisher gefragt wurde, warum ich so oft nach Afrika gefahren bin, habe ich meist geantwortet, der wunderschönen Natur aber auch der Menschen wegen. Ich habe bei den Schwarzen Menschen verallgemeinert: Coolness, Lebensfreue, Gelassenheit – das waren manche der Attribute, die ich mit den Menschen in Afrika assoziiert habe. Nach Hasters ist das auch eine Art Rassismus, den ich da an den Tag gelegt habe – was ich mittlerweile nachvollziehen kann. Schließlich wird nicht jeder Mensch Afrikas die genannten Attribute verkörpern.

Hasters geht auch auf die Argumentation ein, dass manche Menschen „keine Hautfarben sehen würden“. Sie ist der Auffassung, dass diese Leute nicht in der Lage sind, Rassismus zu erkennen. Spätestens da sind wir an dem Punkt angelangt, dass es notwendig ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Daher ist meiner Meinung neben Empathie auch Vertrauen notwendig. Vertrauen gegenüber Menschen, die sich rassistisch angegangen fühlen. Das machen diese Menschen nicht, um Aufmerksamkeit für sich zu erhaschen, sondern um auf eine Situation aufmerksam zu machen, die bei näherer Betrachtungsweise naheliegt. Diese Menschen haben ein Recht darauf, dass dieses Problem angegangen wird.

Attribute Menschengruppen generell zu verpassen kann auch Rassismus sein – jeder Mensch reagiert anders auf diese Verkehrssituation in Cotonou, Benin. Coolness, Gelassenheit etc. empfindet hier sicher jeder von uns anders.

Ein weiterer Punkt, den ich mir selbst in der Debatte anlasten muss, ist das N-Wort (wahlweise auch das Z-Wort in Bezug auf Sinti und Roma), das immer noch in der Kinderliteratur Verwendung findet. Selbst nie mit Rassismus konfrontiert habe ich mir über dieses nie wirklich Gedanken gemacht, bis ich von guten Freund*innen vor ein paar Jahren darauf hingewiesen wurde. Hasters reagiert auf das N-Wort ziemlich souverän, da sie sich in Menschen wie mich hineinversetzt, die sich damit bisher nicht auseinandergesetzt haben. „Es ist das eine, Rassismus zu reproduzieren, weil man ihn nicht erkennt. Es ist etwas anderes, Rassismus zu reproduzieren, weil man die Perspektiven anderer Menschen nicht anerkennt.“. Sobald man dies allerdings erkennt und sich dennoch nicht gegen die Streichung des N-Wortes einsetzt, handelt man rassistisch. Auch dieser Aspekt hat mir zu denken gegeben.

Wir Menschen neigen oft dazu, Sachen aufzuwiegen. Ich gehe gar auf „Whataboutism“ ein, sondern bleibe beim Rassismus. Man könnte schließlich der Meinung sein, als weißer Mensch in Afrika ebenfalls von Rassismus betroffen zu sein, wenn ich dort zum Beispiel mehr für den Bus bezahlen musste als die Einheimischen. Hasters erkennt hier eher die Privilegien, die ich als Weißer habe, der dort als reich und höhergestellt gilt. Sie erkennt an, dass diese Erfahrungen nicht unbedingt positiv sind – es wird mir als weißem Menschen aber tatsächlich nicht unterstellt, dass ich kriminell oder sonstwie bedrohlich sei. Das genannte Beispiel mit dem Bus kann ärgerlich sein, hat aber tatsächlich nichts mit Rassismus zu tun. Es ist eher die Folge des Rassismus, da durch die Ausbeutung der ehemaligen Kolonien durch die Weißen, die „Norm“ entstand, dass Weiße reich und Schwarze Menschen arm sind.

Ein Privileg von Weißen ist es Rassismus zu ignorieren. Hasters schreibt „Die Anerkennung meiner Perspektive ist kein Selbstverständnis, sie ist ein Kampf.“. Und dass Schweigen nichts bringt, wissen wir alle. Wenn rassistische Sätze fallen, dann sollten wir das auch äußern. Fangen wir damit im Bekanntenkreis an: in der Familie, auf der Arbeit, in der Kneipe und hoffentlich bald auch wieder im Stadion.

Es sei denn, es ist uns egal, wie wir Menschen miteinander umgehen. Dann hätte es aber auch nichts gebracht, diesen langen Text zu lesen. Einfach einmal sein eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen kostet kein Geld. Und zu versuchen, andere Menschen ausschließlich nach deren Denken und Handeln zu beurteilen auch nicht. Dieses Aufräumen im Kopf tut letzten Endes auch mir persönlich gut. In den letzten Jahrzehnten konnte ich mir auch ein Bild von Menschen aus der ehemaligen DDR machen, da ich glücklicherweise nach der Wende viele kennengelernt habe. Das pauschale Bild der DDR, das ich in meinem Kopf hatte, habe ich damit auch ersetzen können – durch einzelne Menschen, die ich nach ihrem Denken und Handeln beurteile.  

Quellen:

Rassismus – Grünen-Politikerin Touré: „Wir müssen Rassismus entlernen“ – Gesellschaft – SZ.de

Identitäten (7/7) – Warum weiße Menschen so gerne gleich sind – Deutschlandfunk

DZG2019 – Jenaer Erklärung – Deutsche Zoologische Gesellschaft e.V.