In Half Moon Island auf den Süd-Shetland-Inseln angekommen, hatte ich den Kontinent der Antarktis erreicht. Streitet man sich weiter nördlich in Patagonien, wer die südlichste Stadt der Welt nun besitzt, gilt es als unbestritten, dass der antarktische Kontinent mit dem Passieren der sog. Antarktischen Konvergenz erreicht ist. Diese stellt die Grenze zwischen dem Südozean und dem Atlantik, dem Pazifik bzw. dem Indischen Ozean dar. Das Oberflächenwasser des Südozeans besteht aus relativ salzarmen eiskaltem Wasser, wohingegen der gerade durchfahrene Südatlantik wesentlich salzreicher und mit 6° C als relativ warm gilt. Diese Wassermassen durchmischen sich recht schlecht, so dass auf der Fahrt nach Süden die Wasseroberflächentemperatur innerhalb von ca. 40 Kilometern auf 0° C fällt. Erster Anlaufpunkt von Südamerika kommend ist der Archipel der Süd-Shetland-Inseln, die 1819 vom Engländer William Smith zufällig entdeckt wurden, da er bei der Umrundung von Kap Horn nach Süden abdriftete.
Mein erstes Betreten von antarktischem Boden war gar nicht so einfach, denn in der Antarktis gibt es weder Häfen noch Bootsanlegestellen. Zunächst fiel ich um vier Uhr morgens fast aus dem Bett, als es plötzlich einen ohrenbetäubenden Lärm gab: der Anker wurde inmitten einer Bucht gesetzt! Das Schiff ist mit sog. Zodiacs (großen Schlauchbooten) ausgestattet und eine Anlandung ist jedes Mal ein Unternehmen für sich, da zunächst einmal ein paar Holzpaletten ausgelegt werden, damit man halbwegs trockenen Fußes an Land gehen kann. Obwohl wir Sommer haben, stieg dieTemperatur am ersten Tag kaum über den Gefrierpunkt und durch den omnipräsenten Wind, liegt die gefühlte Temperatur meist unter 0° C. Also heißt es sich warm anziehen und die Schwimmweste drüberstülpen. Diese ist zwar eigentlich ein Placebo, da man sagt, die Überlebenszeit im Wasser in Minuten entspricht im Südozean der Wassertemperatur. Also bleibt bei 0° C sowieso nicht sehr viel Zeit zum unfreiwilligen Bad nehmen, ehe die Lichter ausgehen. Aber gut, man möchte es ja im Falle eines Falles wenigstens versucht haben, zu überleben. Bevor man dann wie ein Astronaut etwas unbeholfen die Brücke nach unten watschelt oder wieder an Bord geht, stiefelt man mit den Schuhen aufgrund von internationalen Bestimmungen in ein Desinfektionsbad, damit keine fremden Bakterien und Samen auf den antarktischen Boden gelangen. Bevor man auf die Zodiacs wieder aufspringen durfte, musste sich mit einer Klobürste der Dreck in Ritzen der Sohlen entfernt werden, damit auch keine Bakterien auf andere Gebiete des Kontinents übertragen werden. Überhaupt ist die Antarktis keine gesetzlose Zone, da durch den sog. Antarktisvertrag, der auch von Deutschland 1979 unterzeichnet wurde, Recht und Ordnung wie in jedem Land der Welt herrscht.
In diesem Vertrag ist festgelegt, dass es die Antarktis in ihrer Ursprünglichkeit zu schützen gilt. Daher heißt es also neben dem Schuhe desinfizieren, keine Nahrungsmittel mitschleppen, nicht wild aufs Klo gehen, Rauchverbot sogar im Freien, Müll wieder mitnehmen, keine Souvenirs in Form von Steinen etc. sammeln und Tieren immer Vorfahrt gewähren. Anscheinend werden diese Regeln tatsächlich eingehalten, denn nirgends fand ich bisher so blitzblanke Strände und Felsen. Nachdem diese Regeln in einer Pflichtveranstaltung an Bord vor dem Anlanden nochmals dem Publikum beigebracht wurden, ging es schließlich morgens um sechs zum ersten Mal an Land – und die Begrüßung konnte gar nicht ausgefallener ausfallen: Es roch überall nach Pinguin-Kacke, deren Geruch lange nicht mehr von meinen Klamotten gewichen ist. Der gesamte Strand war mit rosaroten Exkrementen der Vögelchen bedeckt, aber was tut man nicht alles, um diese an Land so unbeholfen wirkenden Tierchen zu besuchen? Also ab durch den Kot und hin zur Sammel-WG! Die meisten Zügel-Pinguin-Pärchen hatten bereits ein oder zwei flauschige grau gefiederte Jungen, die es warm zu halten galt. Während ein Elternteil Futter in Form von kleinen Garnelen, Krill genannt, holt, passt der Partner im aus Steinchen gezimmerten Nest auf den Nachwuchs auf. Oft muss das Nest erneuert werden und die Bauarbeit zeigt am weißen Bauch oft Spuren. Die meisten Pinguine waren völlig mit bräunlichem Dreck beschmiert, was ihnen aber nichts auszumachen schien.
Neben den Pinguinen wurde die kleine Insel auch von Raubmöwen, sog. Skuas bewohnt, die sich von den Pinguin-Küken oder -Eiern ernähren. Dass wir uns an einem Strand im Südsommer befanden, bemerkte ich schließlich an den vereinzelt chillenden Robben, die gemütlich in den Tag hinein dösten.
Da in der Antarktis auch die Besuchszeiten reglementiert sind, also wie viel Schiffe pro Tag die einzelnen Plätze ansteuern dürfen, wie viel Menschen jeweils insgesamt an Land sein dürfen und wie lange das Schiff ankern darf, sind die Landgänge meist auf ca. eine Stunde begrenzt. In einer Vorhut stecken die Begleiter das Land ab, das betreten werden darf, denn diese Region ist halt nicht Disneyland und man weiß nie so ganz genau, was einen erwartet. Einige Robbenarten können bei schlechter Laune dem Menschen gefährlich werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sorgt diese Vorhut also dafür, dass man von seinen Anlandungen heil wieder an Bord kommt und völlig ausgekühlt dann einen heißen Glühwein genießen kann – und das im Sommer! Überhaupt läuft das Leben an Bord recht dekadent ab. Einmal gab es morgens um elf Freibier, Weißwurst und Blasmusik. Auch das 5-Gänge-Menü mittags und abends lässt wahre Gaumenfreuden aufkommen. Tja, anderer Kontinent andere Sitten.
Auch die Anlegeplätze in der Antarktis unterscheiden sich vom Rest der Welt. Auf Deception-Island konnte das Schiff beispielsweise durch eine kleine Enge in den von Meerwasser gefluteten Krater eines zuletzt 1967 ausgebrochenen Vulkans hineinsteuern. Die Anlandung fand an einem schwarzen Sandstrand statt, der von Pinguinen bevölkert wird, da der heiße Sand den arg unterkühlten Pinguin-Füßen eine Abwechselung vom Alltag im Eis beschert. Am Strand sind noch einige alte Gebäude von einer norwegischen Walfangstation verblieben, die langsam verrotten. Alte Gebäude gelten in der Antarktis als Denkmäler und dürfen nicht mehr verändert, also restauriert oder abgetragen werden. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Antarktis ein beliebtes Wal- und Robbenfanggebiet, was man an den riesigen Gebäuden und einen Flugzeug-Hangar noch heute erkennen kann. Die Antarktis gilt auch als einziger Kontinent, der nicht von Entdeckern sondern von Menschen erstmals betreten wurde, die aus kommerziellen Gründen dorthin fuhren. Der Robbenjäger John Davis betrat als erster Mensch 1821 das antarktische Festland. Es ist wohl auch die einzige wirkliche Entdeckung eines Kontinents, da auf allen anderen ja bereits Ureinwohner lebten.
Dass die Antarktis der Kontinent mit der höchsten durchschnittlichen Höhe (2.250 m) ist, erkennt man beim Reisen entlang der antarktischen Halbinsel, die sich über 2.000 km weit vom antarktischen Kernland in Richtung Südamerika erstreckt, recht deutlich. Überall geht es sofort steil bergauf und das eine Prozent der Antarktis, das nicht mit Eis bedeckt ist, besteht meist einfach aus Felswänden, auf denen sich kein Eis festsetzen kann.
Nachdem wir zunächst nur auf den Süd-Shetland-Inseln Station gemachten hatten, erreichten wir mit Paradise Harbour nun das antarktische Festland. Wie der Name schon sagt, ist diese Buch wirklich paradiesisch schön. Befindet man sich in der Bucht, ist man praktisch im Blickwinkel von 360° von steilen Bergflanken, Gletschern und Eispanzern umgeben. Die vielen Gletscher, die allerdings recht wenig kalben, sorgen dafür, dass das Wasser durch und durch von bizarren Eisbergsformationen durchzogen ist. Anders als in Grönland und der Arktis, wo mancher Gletscher bis zu 12 km an Eis ins Meer pro Jahr abgibt, kalben antarktische Gletscher nur wenige100 Meter jährlich. Der Grund liegt einfach daran, dass so wenig Nachschub in Form von Eis vom Landesinneren in Richtung See nachkommt. Schließlich gilt die Antarktis auch als trockenster Kontinent der Welt. Mit anderen Worten: Die Antarktis ist eigentlich eine Wüste! An manchen Stellen hat es bereits 200.000 Jahre nicht mehr geschneit oder geregnet.
Dementsprechend war das Wetter in Paradise Harbour auch paradiesisch schön: blauer Himmel, windstill und 8° C plus im Schatten. Das ist wahrlich ein prächtiger Sommer, den es mit Faktor 20 Sonnencreme zu feiern galt. Denn das Ozonloch scheint es tatsächlich zu geben, wenn ich mir meine trotz permanenten Einschmierens rot gefärbte Haut so betrachte. In Paradise Harbour trafen wir zum ersten Mal seit fast einer Woche wieder auf Fremde: Angehörige der chilenischen Armee. Diese leben vier Monate lang an einem der schönsten Plätze der Erde unbewaffnet, wie es der Antarktis-Vertrag verlangt und nur für den Notfall-Einsatz da, um Forscher und andere Besucher des Kontinents im Falle eines Falles zu evakuieren. Dementsprechend locker ging es auf der Station Presidente Gabriel González Videla zu. Die Jungs hatten sogar einen Touri-Shop mit Postkartenverkauf aufgemacht. Soldaten, die Postkarten verkaufen – ein wahrhaft anderer Kontinent.
Alle Stationen, die wir passieren, drücken ihren Nationalstolz mit riesigen Fahnen und bemalten Gebäuden in den Nationalfarben aus. Eigentlich gehört die Antarktis laut Vertrag niemanden, doch trotzdem haben einige Nationen territoriale Ansprüche gestellt, wie die Anrainer Chile, Argentinien, Neuseeland und Australien aber natürlich auch die üblichen Kolonialverdächtigen wie Großbritannien und Frankreich sowie Norwegen. Die USA und Russland haben bisher bemerkenswerterweise keine Ansprüche gestellt aber dies geschieht vielleicht noch in Zukunft, denn der Vertrag läuft 2041 aus. Und ob dann beispielsweise nach Bodenschätzen in der Antarktis gesucht werden darf, bleibt abzuwarten. Manche Länder verhielten sich in der Antarktis in der Vergangenheit wie im Kindergarten. Im besuchten Deception-Island, das zunächst von den Briten beansprucht und gegen Nazi-Deutschland 1941 verteidigt wurde, landeten 1942 Argentinier und erklärten alle Gebiete südlich von 60° zwischen 25° W und 68°34 W als ihr Hoheitsgebiet. 1943 kamen die Briten wieder vorbei und entfernten die argentinische Flagge. Diese wurde durch den britischen Botschafter in Buenos Aires den Argentiniern wieder zugestellt. Zwei Monate später kamen die Argentinier wieder vorbei und entfernten den Union Jack und hissten erneut ihre Flagge. Die Briten hatten jetzt genug und gründeten 1944 eine Wetterstation. 1948 bauten die Argentinier ihre eigene Station auf der Insel. Auf dem von den Briten angelegten Landeplatz bauten 1952 schließlich sowohl Argentinien als auch Chile Schutzhütten. Die britische Marine entfernte im darauf folgenden Jahr die Hütten und deportierte zwei Argentinier nach Süd-Georgien, eine britische Insel im Süd-Atlantik. Im selben Jahr zogen britische Soldaten in der Wetterstation ein um „Frieden zu sichern“. Chile baute 1955 eine eigene Station und 1961 wurde der argentinische Präsident eigens hingeflogen, um die territorialen Ansprüche zu untermauern. Heute geht es relativ ruhig zu, denn all diese Stationen sind mittlerweile geschlossen. Stattdessen betreibt nun Spanien dort im antarktischen Sommer Forschung.
Das Leben auf diesen Stationen kann anscheinend langfristig sehr frustrierend sein, denn bei der Anlandung in Paradise Harbour besuchten wir auch die Überreste der argentinischen Station „Almirante Brown“, die 1984 „zufällig“ durch ein Feuer zerstört wurde, als in der Bucht ein amerikanisches Versorgungsschiff ankerte. Der Stationsarzt wusste sich nicht mehr anders zu helfen, um in seine geliebte Heimat zurückzukehren, als die Station anzuzünden. Er war bereits im vierten Jahr ohne Pause hier ans Ende der Welt abkommandiert, ohne Aussicht seinen Arbeitsplatz in Richtung Norden wechseln zu dürfen. Für mich war diese Anlandung eine willkommene Abwechselung vom Alltag auf dem Schiff. Wir konnten auf einen Hügel klettern, von dem man eine herrliche Aussicht auf die umliegenden Berge und die fjordähnliche Bucht hatte. Doch das Beste stand uns noch bevor: der Abstieg in Form einer Naturrodelbahn. Die in der Kabine vorzufindenden Plastikbeutel für Wäsche wurden in Schlitten umfunktioniert und so bot die Abfahrt sicherlich die paradiesischste Abfahrt auf Erden. Mit genügend Tempo hob man sogar bei den eingebauten Schanzen ab. Die Tüte war am Ende zwar arg gebeutelt, der Hintern nass, aber der Christoph very happy.
Bei rund 65° südlicher Breite erreichten wir den Wendepunkt dieser Reise und so langsam ging es wieder in Richtung Norden durch den Antarctic Sound in Richtung Süd-Shetland-Inseln vorbei an unzähligen Eisbergen. Diese lagen teilweise wie an einer Perlenschnur aufgereiht am „Wegesrand“ und erinnerten an von Künstlern geschaffene Skulpturen. Durch das seitlich einfallende Sonnenlicht leuchteten sie vor dem grauen Himmelshintergrund in schneeweiß bis türkisblau. Geschickt navigierte der Kapitän um diese Hindernisse herum und schließlich erreichten wir King-George-Island, die heimliche Hauptstadt des Kontinents. Dort gibt es zahlreiche Annehmlichkeiten, die im Rest des Kontinents Mangelware sind. Zunächst einmal gab mein Mobiltelefon plötzlich wieder Lebenszeichen von sich, da sich fünf SMS in die Antarktis verirrt hatten. Für die Zeit der Anlandung auf der russischen Forschungsstation Bellingshausen hatte ich doch tatsächlich Handy-Empfang. Wir wurden von Vassily, einem Meeresbiologen empfangen, der bereits zehn Monate auf der Station arbeitete und an diesem Tag zum Fremdenführer mutierte. Auf einer Anhöhe wurde 2003 die erste russisch-orthodoxe Kirche errichtet. Das Holz dazu stammt aus dem Altai-Gebirge in Sibirien. Ein russischer Geschäftsmann spendete das Geld für den Kirchenbau. Die Kirche wurde in Russland zusammengebaut und die einzelnen Hölzer katalogisiert, die Kirche zusammengelegt und ans Ende der Welt verschifft. Von der Bucht aus trugen die rund 20 Wissenschaftler und zwei Geistliche die Einzelteile zum heutigen Standort hinauf und bauten das Gebäude in Ikea-Manier wieder auf.
Es war interessant zu sehen, unter welch bescheidenen Verhältnissen die Forscher in kleinen rotfarbenen Stelzenhäusern ihr Dasein fristen. Da Russen erst am 6. Januar Weihnachten feiern, stand der Christbaum natürlich noch im Wohnzimmer. Die „Bewohner“ von King-George-Island leben nicht in der totalen Isolation, wie viele andere Forscher auf dem Kontinent. Direkt neben den Russen haben die Chilenen eine Station errichtet, die sogar mit einem kleinen Flugplatz samt Landebefeuerung ausgestattet ist. Hinter dem Hügel leben die Chinesen und Uruguayer, so dass sich im letzten Winter die Sportbegeisterten sogar zu einer antarktischen Olympiade trafen. Im Tischtennis gewannen natürlich die Chinesen und im Fußball die Chilenen. Auf dem Hauptplatz der russischen Station, die nach dem Esten Bellingshausen benannt ist, der 1819 als erster Mensch das Festland der Antarktis sichtete, aber damals nicht betrat, wehten neben der russischen Fahne auch die von Luxemburg, Litauen und Deutschland, da zurzeit Studenten aus den drei Ländern zu Gast sind. Die deutschen Studenten stammen aus Jena und ein Schild weist die Entfernung in die thüringische Heimat mit 13.996 km aus.
Auf der anderen Seite der Insel liegt die polnische Station Arctowski, auf der wir die antarktische Sommernacht kennen lernten. Die Ausbootung fand um Mitternacht statt, es war allerdings nur dämmrig. Von Uhrzeiten in der Antarktis zu sprechen ist sowieso ziemlich daneben, denn, wenn am Südpol alle Zeitzonen der Welt zusammentreffen, kann man sich seine Lieblingszone aussuchen. Aber wofür braucht man auf diesem Kontinent sowieso Uhrzeiten. Es gibt keine Geschäfte und die Souvenirshops der Forschungsstationen sind sowieso eher die Wohnzimmer der dort Lebenden, die offen sind, sobald ein Schiff anlegt. Auf dieser Reise gilt an Bord die chilenische Sommerzeit (- 4 Stunden zur MEZ), vielleicht, weil wir in Chile gestartet sind. Aber an Land bringt einem diese Zeiteinteilung eh nichts. Dunkel wird es auch nicht richtig und um die Eis- und Felsformationen, sowie die Adélie-Pinguin-Kolonien und die arg stinkenden und permanent rülpsenden Seeelefanten mitten in der Nacht zu bewundern, braucht es keine Uhrzeit.
Leider hieß es danach Abschied nehmen von diesem ganz anders funktionierenden Kontinent und wir nahmen wieder Kurs auf die Drake-Passage, die den Südozean mit Pazifik und Atlantik verbindet. Nach ein paar Stunden auf See kam es wieder zum sog. Drake-Shake mit Wellen um die fünf Meter und der Gewissheit, dass Tabletten gegen Seekrankheit das Leben auf dem Schiff wirklich erleichtern können. Als „Erholung auf See“ angekündigt, war dieses Wellenreiten wirklich nur noch mit Pillen zu genießen. So gedopt wurde die Überfahrt allerdings wirklich zu einer besonderen Erholung. Das Gefühl der Übelkeit nahm die Medizin und ich kam mir fortan wie in einem ewig andauernden Computerspiel oder einem Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt vor. Am besten ließ sich das „Spiel“ im Bett genießen. Mit dem Ohr praktisch an der Außenwand hörte ich das Schiff ständig ins Wasser mit großem Getöse abtauchen. Dann schoss der Rumpf auch schon wieder so stark nach oben, dass das Hirn im Kopf diese Bewegung nur zeitversetzt nachvollzog und ein starkes Druckgefühl wie bei einem Looping in der Achterbahn entstand. Danach ging es auch schon wieder bergab. Das „Spiel“ wurde durch das Knirschen und Ächzen der dünnen, blechernen Kabinenwände noch „echter“. Ab und zu flog der Kahn auch über eine Welle hinweg und es holperte als wäre man gerade durch ein Schlagloch geheizt.
Dann und wann schüttelte sich das Boot nach links und rechts als würde es sich gleich krampfhaft übergeben. Im Doppelstockbett kam es dann doch bei mir zu einem Unfall. Da mein Kopf sich im Bett permanent knapp unter der Kabinendecke sich befand, knallte ich, einer Welle sei Dank, beim Hinabsteigen mit dem Kopf gegen die Sprinkleranlage und schon hatte ich eine kleine Platzwunde, die aber recht schnell aufhörte zu bluten.
Das Dauer-Schütteln wollte auch in der Nacht kein Ende nehmen. Am Morgen hatte ich den Eindruck, der Wellengang ließe nach und wagte es sogar zu duschen und mich nass zu rasieren. Anscheinend gewöhnt sich der Mensch an alles recht schnell, denn ich lernte in der Dusche geschickt zu balancieren und mich trotz heftigem Schaukeln kaum zu schneiden. Außerdem brauchte ich keine Pillen mehr, um trotzdem guten Appetit zu haben. Die meteorologischen Daten brachten dann die Gewissheit, dass der Seegang sogar noch zugenommen hat. Dass man bei solchem Wetter lieber keinen Rotwein trinkt, bewies das folgende Mittagessen. Die Wellen hatten bei Windstärke acht bis neun nun eine Höhe von ca. zehn Metern erreicht und schwappten am Restaurantfenster, das sich im dritten Stock befand, dauernd vorbei. Plötzlich neigte sich das Schiff zur Seite und die Gläser kippten um und fielen zum Teil vom Tisch. Da ich nur Sprudel trank, wurde ich zwar nass, aber die Kleidung musste wenigstens nicht in die Reinigung. Bei solch einem Wetter zieht es einen trotzdem an Deck und dort lässt sich das Geschaukel auch richtig genießen. Die uns immer begleitenden Kapsturmvögel und Riesensturmvögel gaben einem in dieser stürmischen See das Gefühl von Sicherheit. Angst bekam ich lediglich beim Essen, denn dort die riesigen Wellen vorbeirauschen zu sehen, flößte mir vor Mutter Natur mal wieder riesigen Respekt ein. Draußen hingegen läuft alles recht einfach getreu dem Motto „hoch und nieder immer wieder“ ab und man erkennt, dass sich das Schiff doch recht souverän seinen Weg durch das Wasser bahnt.
Nach 62 Stunden Dauerschütteln oder ca. 1.500 km Reise gen Norden erreichte das Schiff den Archipel der Falkland-Inseln. Das erste, was mir auffiel, war die Farbe Grün. Dominierte seit der Abfahrt in Ushuaia die Farben Blau und Weiß, kam mir die spärliche Vegetation schon wie fast wie ein „Urwald“ vor. Und es roch nicht nach Pinguin-Kacke. Stattdessen landete der Duft von Blumen in meiner arg gebeutelten Nase. Wegen der stürmischen See dauerte es bei Windstärke sieben geschlagene zwei Stunden, das Schiff sicher am Kai zu verzurren. Obwohl ich mich an Bord sehr wohl fühlte, war ich doch sehr froh, endlich mal wieder Land betreten zu können und in der südlichsten Hauptstadt der Welt, dem 2.000 Einwohner großen Stanley ,bummeln zu gehen.
Das Wetter war „very british“: Regenschauer und sonnige Abschnitte wechselten sich in diesem Sommer bei 10° C permanent ab. In windgeschützten Stellen der Stadt gediehen sogar Bäume. Die kleinen Häuser mit ihren pink-roten Dächern und bunten Mauern brachten viel Farbe in das Grau in Grau. In jedem zweiten Garten flatterte der Union Jack oder die Fahne der Falklands, die seit 1765 zur Krone gehören. Die unbesiedelten Inseln wurden erstmals von den Franzosen 1764 bevölkert. Da diese aus der bretonischen Stadt St. Malo kamen, nannten sie die Inseln „Les Malouines“. Die Spanier machten daraus „Islas Malvinas“, die bis heute in Südamerika so genannt werden. Nach und nach verließen Franzosen, Spanier und Briten die Inseln im 19. Jahrhundert wieder und niemand interessierte sich mehr für diese Inselgruppe am Ende der Welt. Bei der Staatsgründung von Argentinien 1820 reklamierten die Argentinier die Inseln für sich, aber 1833 schmissen die Engländer die Argentinier einfach raus. Bis 1982 bestand Argentinien darauf, dass die Inseln ihnen gehören und 2. April 1982 wurden die Inseln von Argentinien besetzt. Die Antwort der Briten kam schnell und unerbittlich. Sie zogen gegen Argentinien in den Krieg und am 14. Juni 1982 war der Falkland-Krieg vorbei: rund 1.000 Menschen kamen dabei ums Leben und der Friedhof von Stanley nimmt einen Großteil des Stadtgebietes ein. In dem Ort finden sich drei Kriegsdenkmäler: eines für den Falkland-Krieg, eines für den 1. Weltkrieg bei dem die Pazifik-Flotte der Deutschen vor den Inseln vernichtend geschlagen wurde und eines für den 2. Weltkrieg. Aber eigentlich gehören die Falkland-Inseln weder zu Argentinien noch zu Großbritannien sondern zu Südafrika – zumindest wenn man es geologisch betrachtet. Als es vor Millionen von Jahren den sog. Südkontinent Gondwana gab, der die heutige Antarktis, Südamerika, Afrika, Australien und Indien umfasste, lagen die Falkland-Inseln genau neben dem Kap der Guten Hoffnung. Erst durch die Kontinentalverschiebung rutschten die Inseln mit der Zeit vor die Küste Südamerikas. Es bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft keinen Krieg mehr um die Falkland-Inseln gibt. Aber Ölfunde in den letzten Jahren, lassen leider eher das Gegenteil erwarten
Bei so einer kriegerischen Geschichte war ich überrascht, niemanden der fast 2.000 britischen Soldaten, die die 2.900 Falkländer beschützen sollen, zu Gesicht zu bekommen. Die Stadt, erbaut meist aus Wrackteilen von gesunkenen Schiffen, erinnert mit ihrem Linksverkehr, den vielen Land Rovern und den blumenüberhäuften Vorgärten ganz eindeutig ans Mutterland in ca. 12.000 km Entfernung. Aber die Stadt war ein total verschlafenes Nest, in dem ich es gerade mal die paar Stunden, die ich dort war, gerne aushielt. Selten war ich froh, einen Ort wieder so schnell verlassen zu dürfen. Gut es nieselte, es blas ständig der Wind und die Sonne war auf Kurzarbeit, aber die Straßen waren bis auf uns Touristen menschenleer undso stellte ich mir wirklich das Ende der Welt oder zumindest das Ende der menschlichen Besiedlung dar.
Durch die Nacht umkurvte unser Schiff die beiden Hauptinseln West- und East-Falkland um im äußersten Westen des Archipels vor der Insel West Point ein letztes Mal anzulegen. Die Insel, ca. 10 x 2 km groß, gehört einem alten Ehepaar. Beide sind über 80 und freuten sich auf den Besuch unserer Meute. Im Bauernhaus stapelten sich Cookies und Kuchen, Tee und Kaffee wurde gereicht. Natürlich wehte der Union Jack über dem Gehöft und, so gestärkt, wanderte ich über die Insel zur Felsenpinguin- und Albatroskolonie am anderen Ende des Eilands. Die Pinguine haben es im Vergleich zu ihren Artgenossen in der Antarktis richtig gut. Denn auf Falkland gefriert es selten, man kann herrlich auf der Wiese brüten und anscheinend gibt es auch nicht so stressige Feinde wie die in der Antarktis ständig präsenten Skuas (Raubmöwe). In einer Art Wohngemeinschaft mit den Albatrossen wurden die bereits geschlüpften Küken in einem Kindergarten wohlbehütet. Die Jungen der Felsenpinguine sind noch mit braunem Flaum überzogen. Wenn sie in die Mauser kommen, werden daraus richtig stylische Viecher, denn die Felsenpinguine haben gelbe Strähnchen über ihrem Kopf und tiefrote Augen. Der Laufsteg auf dem sie sich präsentieren war nur wenige Meter neben dem Wanderweg und so konnte man in aller Ruhe den Alltag in der Wohngemeinschaft wunderbar beobachten.
Irgendwann musste ich dann leider Abschied nehmen von West Point und den Pinguinen und es begann die lange Heimfahrt in Richtung Deutschland. Nach drei Tagen Odyssee bin ich nun in Mainz wieder angekommen und habe versucht, das Erlebte ein wenig in Worte zu fassen.