Antarktis 2008 letzter Teil

In Half Moon Island auf den Süd-Shetland-Inseln angekommen, hatte ich den Kontinent der Antarktis erreicht. Streitet man sich weiter nördlich in Patagonien, wer die südlichste Stadt der Welt nun besitzt, gilt es als unbestritten, dass der antarktische Kontinent mit dem Passieren der sog. Antarktischen Konvergenz erreicht ist. Diese stellt die Grenze zwischen dem Südozean und dem Atlantik, dem Pazifik bzw. dem Indischen Ozean dar. Das Oberflächenwasser des Südozeans besteht aus relativ salzarmen eiskaltem Wasser, wohingegen der gerade durchfahrene Südatlantik wesentlich salzreicher und mit 6° C als relativ warm gilt. Diese Wassermassen durchmischen sich recht schlecht, so dass auf der Fahrt nach Süden die Wasseroberflächentemperatur innerhalb von ca. 40 Kilometern auf 0° C fällt. Erster Anlaufpunkt von Südamerika kommend ist der Archipel der Süd-Shetland-Inseln, die 1819 vom Engländer William Smith zufällig entdeckt wurden, da er bei der Umrundung von Kap Horn nach Süden abdriftete.

Mein erstes Betreten von antarktischem Boden war gar nicht so einfach, denn in der Antarktis gibt es weder Häfen noch Bootsanlegestellen. Zunächst fiel ich um vier Uhr morgens fast aus dem Bett, als es plötzlich einen ohrenbetäubenden Lärm gab: der Anker wurde inmitten einer Bucht gesetzt! Das Schiff ist mit sog. Zodiacs (großen Schlauchbooten) ausgestattet und eine Anlandung ist jedes Mal ein Unternehmen für sich, da zunächst einmal ein paar Holzpaletten ausgelegt werden, damit man halbwegs trockenen Fußes an Land gehen kann. Obwohl wir Sommer haben, stieg dieTemperatur am ersten Tag kaum über den Gefrierpunkt und durch den omnipräsenten Wind, liegt die gefühlte Temperatur meist unter 0° C. Also heißt es sich warm anziehen und die Schwimmweste drüberstülpen. Diese ist zwar eigentlich ein Placebo, da man sagt, die Überlebenszeit im Wasser in Minuten entspricht im Südozean der Wassertemperatur. Also bleibt bei 0° C sowieso nicht sehr viel Zeit zum unfreiwilligen Bad nehmen, ehe die Lichter ausgehen. Aber gut, man möchte es ja im Falle eines Falles wenigstens versucht haben, zu überleben. Bevor man dann wie ein Astronaut etwas unbeholfen die Brücke nach unten watschelt oder wieder an Bord geht, stiefelt man mit den Schuhen aufgrund von internationalen Bestimmungen in ein Desinfektionsbad, damit keine fremden Bakterien und Samen auf den antarktischen Boden gelangen. Bevor man auf die Zodiacs wieder aufspringen durfte, musste sich mit einer Klobürste der Dreck in Ritzen der Sohlen entfernt werden, damit auch keine Bakterien auf andere Gebiete des Kontinents übertragen werden. Überhaupt ist die Antarktis keine gesetzlose Zone, da durch den sog. Antarktisvertrag, der auch von Deutschland 1979 unterzeichnet wurde, Recht und Ordnung wie in jedem Land der Welt herrscht.

Half Moon Island
Half Moon Island

In diesem Vertrag ist festgelegt, dass es die Antarktis in ihrer Ursprünglichkeit zu schützen gilt. Daher heißt es also neben dem Schuhe desinfizieren, keine Nahrungsmittel mitschleppen, nicht wild aufs Klo gehen, Rauchverbot – sogar im Freien, Müll wieder mitnehmen, keine Souvenirs in Form von Steinen etc. sammeln und Tieren immer Vorfahrt gewähren. Anscheinend werden diese Regeln tatsächlich eingehalten, denn nirgends fand ich bisher so blitzblanke Strände und Felsen. Nachdem diese Regeln in einer Pflichtveranstaltung an Bord vor dem Anlanden nochmals dem Publikum beigebracht wurden, ging es schließlich morgens um sechs zum ersten Mal an Land – und die Begrüßung konnte gar nicht ausgefallener ausfallen: Es roch überall nach Pinguin-Kacke, deren Geruch lange nicht mehr von meinen Klamotten gewichen ist. Der gesamte Strand war mit rosaroten Exkrementen der Vögelchen bedeckt, aber was tut man nicht alles, um diese an Land so unbeholfen wirkenden Tierchen zu besuchen? Also ab durch den Kot und hin zur Sammel-WG! Die meisten Zügel-Pinguin-Pärchen hatten bereits ein oder zwei flauschige grau gefiederte Jungen, die es warm zu halten galt. Während ein Elternteil Futter in Form von kleinen Garnelen, Krill genannt, holt, passt der Partner im aus Steinchen gezimmerten Nest auf den Nachwuchs auf. Oft muss das Nest erneuert werden und die Bauarbeit zeigt am weißen Bauch oft Spuren. Die meisten Pinguine waren völlig mit bräunlichem Dreck beschmiert, was ihnen aber nichts auszumachen schien.

Zügelpinguine, Half Moon Island
Zügelpinguine, Half Moon Island

Neben den Pinguinen wurde die kleine Insel auch von Raubmöwen, sog. Skuas bewohnt, die sich von den Pinguin-Küken oder -Eiern ernähren. Dass wir uns an einem Strand im Südsommer befanden, bemerkte ich schließlich an den vereinzelt chillenden Robben, die gemütlich in den Tag hinein dösten.  

Robbe, Yankee Harbour
Robbe, Yankee Harbour

Da in der Antarktis auch die Besuchszeiten reglementiert sind, also wie viel Schiffe pro Tag die einzelnen Plätze ansteuern dürfen, wie viel Menschen jeweils insgesamt an Land sein dürfen und wie lange das Schiff ankern darf, sind die Landgänge meist auf ca. eine Stunde begrenzt. In einer Vorhut stecken die Begleiter das Land ab, das betreten werden darf, denn diese Region ist halt nicht Disneyland und man weiß nie so ganz genau, was einen erwartet. Einige Robbenarten können bei schlechter Laune dem Menschen gefährlich werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sorgt diese Vorhut also dafür, dass man von seinen Anlandungen heil wieder an Bord kommt und völlig ausgekühlt dann einen heißen Glühwein genießen kann – und das im Sommer! Überhaupt läuft das Leben an Bord recht dekadent ab. Einmal gab es morgens um elf Freibier, Weißwurst und Blasmusik. Auch das 5-Gänge-Menü mittags und abends lässt wahre Gaumenfreuden aufkommen. Tja, anderer Kontinent andere Sitten.

Auch die Anlegeplätze in der Antarktis unterscheiden sich vom Rest der Welt. Auf Deception-Island konnte das Schiff beispielsweise durch eine kleine Enge in den von Meerwasser gefluteten Krater eines zuletzt 1967 ausgebrochenen Vulkans hineinsteuern. Die Anlandung fand an einem schwarzen Sandstrand statt, der von Pinguinen bevölkert wird, da der heiße Sand den arg unterkühlten Pinguin-Füßen eine Abwechselung vom Alltag im Eis beschert. Am Strand sind noch einige alte Gebäude von einer norwegischen Walfangstation verblieben, die langsam verrotten. Alte Gebäude gelten in der Antarktis als Denkmäler und dürfen nicht mehr verändert, also restauriert oder abgetragen werden. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Antarktis ein beliebtes Wal- und Robbenfanggebiet, was man an den riesigen Gebäuden und einen Flugzeug-Hangar noch heute erkennen kann. Die Antarktis gilt auch als einziger Kontinent, der nicht von Entdeckern sondern von Menschen erstmals betreten wurde, die aus kommerziellen Gründen dorthin fuhren. Der Robbenjäger John Davis betrat als erster Mensch 1821 das antarktische Festland. Es ist wohl auch die einzige wirkliche Entdeckung eines Kontinents, da auf allen anderen ja bereits Ureinwohner lebten.

Deception Island
Deception Island

Dass die Antarktis der Kontinent mit der höchsten durchschnittlichen Höhe (2.250 m) ist, erkennt man beim Reisen entlang der antarktischen Halbinsel, die sich über 2.000 km weit vom antarktischen Kernland in Richtung Südamerika erstreckt, recht deutlich. Überall geht es sofort steil bergauf und das eine Prozent der Antarktis, das nicht mit Eis bedeckt ist, besteht meist einfach aus Felswänden, auf denen sich kein Eis festsetzen kann.

Nachdem wir zunächst nur auf den Süd-Shetland-Inseln Station gemachten hatten, erreichten wir mit Paradise Harbour nun das antarktische Festland. Wie der Name schon sagt, ist diese Buch wirklich paradiesisch schön. Befindet man sich in der Bucht, ist man praktisch im Blickwinkel von 360° von steilen Bergflanken, Gletschern und Eispanzern umgeben. Die vielen Gletscher, die allerdings recht wenig kalben, sorgen dafür, dass das Wasser durch und durch von bizarren Eisbergsformationen durchzogen ist. Anders als in Grönland und der Arktis, wo mancher Gletscher bis zu 12 km an Eis ins Meer pro Jahr abgibt, kalben antarktische Gletscher nur wenige100 Meter jährlich. Der Grund liegt einfach daran, dass so wenig Nachschub in Form von Eis vom Landesinneren in Richtung See nachkommt. Schließlich gilt die Antarktis auch als trockenster Kontinent der Welt. Mit anderen Worten: Die Antarktis ist eigentlich eine Wüste! An manchen Stellen hat es bereits 200.000 Jahre nicht mehr geschneit oder geregnet. 

Paradise Harbour
Paradise Harbour

Dementsprechend war das Wetter in Paradise Harbour auch paradiesisch schön: blauer Himmel, windstill und 8° C plus im Schatten. Das ist wahrlich ein prächtiger Sommer, den es mit Faktor 20 Sonnencreme zu feiern galt. Denn das Ozonloch scheint es tatsächlich zu geben, wenn ich mir meine trotz permanenten Einschmierens rot gefärbte Haut so betrachte. In Paradise Harbour trafen wir zum ersten Mal seit fast einer Woche wieder auf Fremde: Angehörige der chilenischen Armee. Diese leben vier Monate lang an einem der schönsten Plätze der Erde – unbewaffnet, wie es der Antarktis-Vertrag verlangt und nur für den Notfall-Einsatz da, um Forscher und andere Besucher des Kontinents im Falle eines Falles zu evakuieren. Dementsprechend locker ging es auf der Station Presidente Gabriel González Videla zu. Die Jungs hatten sogar einen Touri-Shop mit Postkartenverkauf aufgemacht. Soldaten, die Postkarten verkaufen – ein wahrhaft anderer Kontinent. 

Station Presidente Gabriel González Videla
Station Presidente Gabriel González Videla

Alle Stationen, die wir passieren, drücken ihren Nationalstolz mit riesigen Fahnen und bemalten Gebäuden in den Nationalfarben aus. Eigentlich gehört die Antarktis laut Vertrag niemanden, doch trotzdem haben einige Nationen territoriale Ansprüche gestellt, wie die Anrainer Chile, Argentinien, Neuseeland und Australien aber natürlich auch die üblichen Kolonialverdächtigen wie Großbritannien und Frankreich sowie Norwegen. Die USA und Russland haben bisher bemerkenswerterweise keine Ansprüche gestellt – aber dies geschieht vielleicht noch in Zukunft, denn der Vertrag läuft 2041 aus. Und ob dann beispielsweise nach Bodenschätzen in der Antarktis gesucht werden darf, bleibt abzuwarten. Manche Länder verhielten sich in der Antarktis in der Vergangenheit wie im Kindergarten. Im besuchten Deception-Island, das zunächst von den Briten beansprucht und gegen Nazi-Deutschland 1941 verteidigt wurde, landeten 1942 Argentinier und erklärten alle Gebiete südlich von 60° zwischen 25° W und 68°34’ W als ihr Hoheitsgebiet. 1943 kamen die Briten wieder vorbei und entfernten die argentinische Flagge. Diese wurde durch den britischen Botschafter in Buenos Aires den Argentiniern wieder zugestellt. Zwei Monate später kamen die Argentinier wieder vorbei und entfernten den Union Jack und hissten erneut ihre Flagge. Die Briten hatten jetzt genug und gründeten 1944 eine Wetterstation. 1948 bauten die Argentinier ihre eigene Station auf der Insel. Auf dem von den Briten angelegten Landeplatz bauten 1952 schließlich sowohl Argentinien als auch Chile Schutzhütten. Die britische Marine entfernte im darauf folgenden Jahr die Hütten und deportierte zwei Argentinier nach  Süd-Georgien, eine britische Insel im Süd-Atlantik. Im selben Jahr zogen britische Soldaten in der Wetterstation ein um „Frieden zu sichern“. Chile baute 1955 eine eigene Station und 1961 wurde der argentinische Präsident eigens hingeflogen, um die territorialen Ansprüche zu untermauern. Heute geht es relativ ruhig zu, denn all diese Stationen sind mittlerweile geschlossen. Stattdessen betreibt nun Spanien dort im antarktischen Sommer Forschung.

Das Leben auf diesen Stationen kann anscheinend langfristig sehr frustrierend sein, denn bei der Anlandung in Paradise Harbour besuchten wir auch die Überreste der argentinischen Station „Almirante Brown“, die 1984 „zufällig“ durch ein Feuer zerstört wurde, als in der Bucht ein amerikanisches Versorgungsschiff ankerte. Der Stationsarzt wusste sich nicht mehr anders zu helfen, um in seine geliebte Heimat zurückzukehren, als die Station anzuzünden. Er war bereits im vierten Jahr ohne Pause hier ans Ende der Welt abkommandiert, ohne Aussicht seinen Arbeitsplatz in Richtung Norden wechseln zu dürfen. Für mich war diese Anlandung eine willkommene Abwechselung vom Alltag auf dem Schiff. Wir konnten auf einen Hügel klettern, von dem man eine herrliche Aussicht auf die umliegenden Berge und die fjordähnliche Bucht hatte. Doch das Beste stand uns noch bevor: der Abstieg in Form einer Naturrodelbahn. Die in der Kabine vorzufindenden Plastikbeutel für Wäsche wurden in Schlitten umfunktioniert und so bot die Abfahrt sicherlich die paradiesischste Abfahrt auf Erden. Mit genügend Tempo hob man sogar bei den eingebauten Schanzen ab. Die Tüte war am Ende zwar arg gebeutelt, der Hintern nass, aber der Christoph very happy. 

Naturrodelbahn, Station Almirante Brown
Naturrodelbahn, Station Almirante Brown

Bei rund 65° südlicher Breite erreichten wir den Wendepunkt dieser Reise und so langsam ging es wieder in Richtung Norden durch den Antarctic Sound in Richtung Süd-Shetland-Inseln vorbei an unzähligen Eisbergen. Diese lagen teilweise wie an einer Perlenschnur aufgereiht am „Wegesrand“ und erinnerten an von Künstlern geschaffene Skulpturen. Durch das seitlich einfallende Sonnenlicht leuchteten sie vor dem grauen Himmelshintergrund in schneeweiß bis türkisblau. Geschickt navigierte der Kapitän um diese Hindernisse herum und schließlich erreichten wir King-George-Island, die heimliche Hauptstadt des Kontinents. Dort gibt es zahlreiche Annehmlichkeiten, die im Rest des Kontinents Mangelware sind. Zunächst einmal gab mein Mobiltelefon plötzlich wieder Lebenszeichen von sich, da sich fünf SMS in die Antarktis verirrt hatten. Für die Zeit der Anlandung auf der russischen Forschungsstation Bellingshausen hatte ich doch tatsächlich Handy-Empfang. Wir wurden von Vassily, einem Meeresbiologen empfangen, der bereits zehn Monate auf der Station arbeitete und an diesem Tag zum Fremdenführer mutierte. Auf einer Anhöhe wurde 2003 die erste russisch-orthodoxe Kirche errichtet. Das Holz dazu stammt aus dem Altai-Gebirge in Sibirien. Ein russischer Geschäftsmann spendete das Geld für den Kirchenbau. Die Kirche wurde in Russland zusammengebaut und die einzelnen Hölzer katalogisiert, die Kirche zusammengelegt und ans Ende der Welt verschifft. Von der Bucht aus trugen die rund 20 Wissenschaftler und zwei Geistliche die Einzelteile zum heutigen Standort hinauf und bauten das Gebäude in Ikea-Manier wieder auf.


Russisch-Orthodoxe Kirch, Station Bellingshausen
Russisch-Orthodoxe Kirch, Station Bellingshausen

Es war interessant zu sehen, unter welch bescheidenen Verhältnissen die Forscher in kleinen rotfarbenen Stelzenhäusern ihr Dasein fristen. Da Russen erst am 6. Januar Weihnachten feiern, stand der Christbaum natürlich noch im Wohnzimmer. Die „Bewohner“ von King-George-Island leben nicht in der totalen Isolation, wie viele andere Forscher auf dem Kontinent. Direkt neben den Russen haben die Chilenen eine Station errichtet, die sogar mit einem kleinen Flugplatz samt Landebefeuerung ausgestattet ist. Hinter dem Hügel leben die Chinesen und Uruguayer, so dass sich im letzten Winter die Sportbegeisterten sogar zu einer antarktischen Olympiade trafen. Im Tischtennis gewannen natürlich die Chinesen und im Fußball die Chilenen. Auf dem Hauptplatz der russischen Station, die nach dem Esten Bellingshausen benannt ist, der 1819 als erster Mensch das Festland der Antarktis sichtete, aber damals nicht betrat, wehten neben der russischen Fahne auch die von Luxemburg, Litauen und Deutschland, da zurzeit Studenten aus den drei Ländern zu Gast sind. Die deutschen Studenten stammen aus Jena und ein Schild weist die Entfernung in die thüringische Heimat mit 13.996 km aus.       

Auf der anderen Seite der Insel liegt die polnische Station Arctowski, auf der wir die antarktische Sommernacht kennen lernten. Die Ausbootung fand um Mitternacht statt, es war allerdings nur dämmrig. Von Uhrzeiten in der Antarktis zu sprechen ist sowieso ziemlich daneben, denn, wenn am Südpol alle Zeitzonen der Welt zusammentreffen, kann man sich seine Lieblingszone aussuchen. Aber wofür braucht man auf diesem Kontinent sowieso Uhrzeiten. Es gibt keine Geschäfte und die Souvenirshops der Forschungsstationen sind sowieso eher die Wohnzimmer der dort Lebenden, die offen sind, sobald ein Schiff anlegt. Auf dieser Reise gilt an Bord die chilenische Sommerzeit (- 4 Stunden zur MEZ), vielleicht,  weil wir in Chile gestartet sind. Aber an Land bringt einem diese Zeiteinteilung eh nichts. Dunkel wird es auch nicht richtig und um die Eis- und Felsformationen, sowie die Adélie-Pinguin-Kolonien und die arg stinkenden und permanent rülpsenden Seeelefanten mitten in der Nacht zu bewundern, braucht es keine Uhrzeit.

Station Arctowski
Station Arctowski

Leider hieß es danach Abschied nehmen von diesem ganz anders funktionierenden Kontinent und wir nahmen wieder Kurs auf die Drake-Passage, die den Südozean mit Pazifik und Atlantik verbindet. Nach ein paar Stunden auf See kam es wieder zum sog. Drake-Shake mit Wellen um die fünf Meter und der Gewissheit, dass Tabletten gegen Seekrankheit das Leben auf dem Schiff wirklich erleichtern können. Als „Erholung auf See“ angekündigt, war dieses Wellenreiten wirklich nur noch mit Pillen zu genießen. So gedopt wurde die Überfahrt allerdings wirklich zu einer besonderen Erholung. Das Gefühl der Übelkeit nahm die Medizin und ich kam mir fortan wie in einem ewig andauernden Computerspiel oder einem Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt vor. Am besten ließ sich das „Spiel“ im Bett genießen. Mit dem Ohr praktisch an der Außenwand hörte ich das Schiff ständig ins Wasser mit großem Getöse abtauchen. Dann schoss der Rumpf auch schon wieder so stark nach oben, dass das Hirn im Kopf diese Bewegung nur zeitversetzt nachvollzog und ein starkes Druckgefühl wie bei einem Looping in der Achterbahn entstand. Danach ging es auch schon wieder bergab. Das „Spiel“ wurde durch das Knirschen und Ächzen der dünnen, blechernen Kabinenwände noch „echter“. Ab und zu flog der Kahn auch über eine Welle hinweg und es holperte als wäre man gerade durch ein Schlagloch geheizt.

Dann und wann schüttelte sich das Boot nach links und rechts als würde es sich gleich krampfhaft übergeben. Im Doppelstockbett kam es dann doch bei mir zu einem Unfall. Da mein Kopf sich im Bett permanent knapp unter der Kabinendecke sich befand, knallte ich, einer Welle sei Dank, beim Hinabsteigen mit dem Kopf gegen die Sprinkleranlage und schon hatte ich eine kleine Platzwunde, die aber recht schnell aufhörte zu bluten.   

Das Dauer-Schütteln wollte auch in der Nacht kein Ende nehmen. Am Morgen hatte ich den Eindruck, der Wellengang ließe nach und wagte es sogar zu duschen und mich nass zu rasieren. Anscheinend gewöhnt sich der Mensch an alles recht schnell, denn ich lernte in der Dusche geschickt zu balancieren und mich trotz heftigem Schaukeln kaum zu schneiden. Außerdem brauchte ich keine Pillen mehr, um trotzdem guten Appetit zu haben. Die meteorologischen Daten brachten dann die Gewissheit, dass der Seegang sogar noch zugenommen hat. Dass man bei solchem Wetter lieber keinen Rotwein trinkt, bewies das folgende Mittagessen. Die Wellen hatten bei Windstärke acht bis neun nun eine Höhe von ca. zehn Metern erreicht und schwappten am Restaurantfenster, das sich im dritten Stock befand, dauernd vorbei. Plötzlich neigte sich das Schiff zur Seite und die Gläser kippten um und fielen zum Teil vom Tisch. Da ich nur Sprudel trank, wurde ich zwar nass, aber die Kleidung musste wenigstens nicht in die Reinigung. Bei solch einem Wetter zieht es einen trotzdem an Deck und dort lässt sich das Geschaukel auch richtig genießen. Die uns immer begleitenden Kapsturmvögel und Riesensturmvögel gaben einem in dieser stürmischen See das Gefühl von Sicherheit. Angst bekam ich lediglich beim Essen, denn dort die riesigen Wellen vorbeirauschen zu sehen, flößte mir vor Mutter Natur mal wieder riesigen Respekt ein. Draußen hingegen läuft alles recht einfach getreu dem Motto „hoch und nieder immer wieder“ ab und man erkennt, dass sich das Schiff doch recht souverän seinen Weg durch das Wasser bahnt.

East-Falkland
East-Falkland

Nach 62 Stunden Dauerschütteln oder ca. 1.500 km Reise gen Norden erreichte das Schiff den Archipel der Falkland-Inseln. Das erste, was mir auffiel, war die Farbe Grün. Dominierte seit der Abfahrt in Ushuaia die Farben Blau und Weiß, kam mir die spärliche Vegetation schon wie fast wie ein „Urwald“ vor. Und es roch nicht nach Pinguin-Kacke. Stattdessen landete der Duft von Blumen in meiner arg gebeutelten Nase. Wegen der stürmischen See dauerte es bei Windstärke sieben geschlagene zwei Stunden, das Schiff sicher am Kai zu verzurren. Obwohl ich mich an Bord sehr wohl fühlte, war ich doch sehr froh, endlich mal wieder Land betreten zu können und in der südlichsten Hauptstadt der Welt, dem 2.000 Einwohner großen Stanley ,bummeln zu gehen.

Das Wetter war „very british“: Regenschauer und sonnige Abschnitte wechselten sich in diesem Sommer bei 10° C permanent ab. In windgeschützten Stellen der Stadt gediehen sogar Bäume. Die kleinen Häuser mit ihren pink-roten Dächern und bunten Mauern brachten viel Farbe in das Grau in Grau. In jedem zweiten Garten flatterte der Union Jack oder die Fahne der Falklands, die seit 1765 zur Krone gehören. Die unbesiedelten Inseln wurden erstmals von den Franzosen 1764 bevölkert. Da diese aus der bretonischen Stadt St. Malo kamen, nannten sie die Inseln „Les Malouines“. Die Spanier machten daraus „Islas Malvinas“, die bis heute in Südamerika so genannt werden. Nach und nach verließen Franzosen, Spanier und Briten die Inseln im 19. Jahrhundert wieder und niemand interessierte sich mehr für diese Inselgruppe am Ende der Welt. Bei der Staatsgründung von Argentinien 1820 reklamierten die Argentinier die Inseln für sich, aber 1833 schmissen die Engländer die Argentinier einfach raus. Bis 1982 bestand Argentinien darauf, dass die Inseln ihnen gehören und 2. April 1982 wurden die Inseln von Argentinien besetzt. Die Antwort der Briten kam schnell und unerbittlich. Sie zogen gegen Argentinien in den Krieg und am 14. Juni 1982 war der Falkland-Krieg vorbei: rund 1.000 Menschen kamen dabei ums Leben und der Friedhof von Stanley nimmt einen Großteil des Stadtgebietes ein. In dem Ort finden sich drei Kriegsdenkmäler: eines für den Falkland-Krieg, eines für den 1. Weltkrieg bei dem die Pazifik-Flotte der Deutschen vor den Inseln vernichtend geschlagen wurde und eines für den 2. Weltkrieg. Aber eigentlich gehören die Falkland-Inseln weder zu Argentinien noch zu Großbritannien sondern zu Südafrika – zumindest wenn man es geologisch betrachtet. Als es vor Millionen von Jahren den sog. Südkontinent Gondwana gab, der die heutige Antarktis, Südamerika, Afrika, Australien und Indien umfasste, lagen die Falkland-Inseln genau neben dem Kap der Guten Hoffnung. Erst durch die Kontinentalverschiebung rutschten die Inseln mit der Zeit vor die Küste Südamerikas. Es bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft keinen Krieg mehr um die Falkland-Inseln gibt. Aber Ölfunde in den letzten Jahren, lassen leider eher das Gegenteil erwarten…

Stanley, Falkland-Inseln
Stanley, Falkland-Inseln

Bei so einer kriegerischen Geschichte war ich überrascht, niemanden der fast 2.000 britischen Soldaten, die die 2.900 Falkländer beschützen sollen, zu Gesicht zu bekommen. Die Stadt, erbaut meist aus Wrackteilen von gesunkenen Schiffen, erinnert mit ihrem Linksverkehr, den vielen Land Rovern und den blumenüberhäuften Vorgärten ganz eindeutig ans Mutterland in ca. 12.000 km Entfernung. Aber die Stadt war ein total verschlafenes Nest, in dem ich es gerade mal die paar Stunden, die ich dort war, gerne aushielt. Selten war ich froh, einen Ort wieder so schnell verlassen zu dürfen. Gut es nieselte, es blas ständig der Wind und die Sonne war auf Kurzarbeit, aber die Straßen waren bis auf uns Touristen menschenleer undso stellte ich mir wirklich das Ende der Welt oder zumindest das Ende der menschlichen Besiedlung dar.

Durch die Nacht umkurvte unser Schiff die beiden Hauptinseln West- und East-Falkland um im äußersten Westen des Archipels vor der Insel West Point ein letztes Mal anzulegen. Die Insel, ca. 10 x 2 km groß, gehört einem alten Ehepaar. Beide sind über 80 und freuten sich auf den Besuch unserer Meute. Im Bauernhaus stapelten sich Cookies und Kuchen, Tee und Kaffee wurde gereicht. Natürlich wehte der Union Jack über dem Gehöft und, so gestärkt, wanderte ich über die Insel zur Felsenpinguin- und Albatroskolonie am anderen Ende des Eilands. Die Pinguine haben es im Vergleich zu ihren Artgenossen in der Antarktis richtig gut. Denn auf Falkland gefriert es selten, man kann herrlich auf der Wiese brüten und anscheinend gibt es auch nicht so stressige Feinde wie die in der Antarktis ständig präsenten Skuas (Raubmöwe). In einer Art Wohngemeinschaft mit den Albatrossen wurden die bereits geschlüpften Küken in einem Kindergarten wohlbehütet. Die Jungen der Felsenpinguine sind noch mit braunem Flaum überzogen. Wenn sie in die Mauser kommen, werden daraus richtig stylische Viecher, denn die Felsenpinguine haben gelbe Strähnchen über ihrem Kopf und tiefrote Augen. Der Laufsteg auf dem sie sich präsentieren war nur wenige Meter neben dem Wanderweg und so konnte man in aller Ruhe den Alltag in der Wohngemeinschaft wunderbar beobachten.

West Point Island, Falkland-Inseln
West Point Island, Falkland-Inseln

Irgendwann musste ich dann leider Abschied nehmen von West Point und den Pinguinen und es begann die lange Heimfahrt in Richtung Deutschland. Nach drei Tagen Odyssee bin ich nun in Mainz wieder angekommen und habe versucht, das Erlebte ein wenig in Worte zu fassen.

Antarktis 2008

Eigentlich sollte Euch diese Email bereits vor einer Woche erreichen. Doch gibt es auf unserer Erde doch noch Plätze, an denen es keine Internetcafés gibt. Daher erzähle ich Euch erst heute, was ich so am Jahresanfang gemacht habe und wünsche Euch gleichzeitig einen guten Start in die Woche.

Die Zeiten werden immer schnelllebiger. Nachdem ich das letzte Mal 2002/2003 von Mainz nach Punta Arenas in Chile etwas über 6 Monate unterwegs war, da ich den Umweg mit Bus, Bahn und Schiff via Island und Nordamerika nahm, schaffte ich es im noch jungen 2008 in knapp 24 Stunden nach ganz unten, ins wahre Downunder.

Dass für diese Mammut-Reise nur eine Bordkarte notwendig war, hatte ich dem Charterflieger der LTU zu verdanken. Damit aber alles nicht allzu einfach ablief, ging es erst einmal in einem ersten Hüpfer ins 3148 km entfernte Las Palmas. Dort war eigentlich nur ein Besatzungswechsel sowie ein kurzer Tankstopp vorgesehen. Doch diese Zwischenlandung dauerte dann doch länger als der Flugplan es vorsah, da es geschlagene 150 Minuten brauchte, um 50 läppische Tonnen an Kerosin in die Kiste zu packen. Unter normalen nicht kanarischen Zuständen würde so etwas ca. 30 Minuten dauern– aber was soll’s, denn wir durften das Flugzeug ja nicht verlassen und so konnte man sich wenigstens noch ein wenig besser daran gewöhnen, fast 24 Stunden in einem Airbus A 330-200 zu leben.

Voll getankt stand nun ein Nachtflug über 6120 km nach Sao Paulo auf dem Programm. Da wir Passagiere bei der Ankunft in der brasilianischen Metropole bereits 14 Stunden im Flieger saßen, durften wir nun zur Abwechselung dieses Mal aussteigen und zunächst einmal wieder unser Handgepäck durchleuchten lassen. Als Dank gab es hinter der Sicherheitskontrolle einen Gutschein. Die Höhe des Betrags war bereits vor der Landung von den Flugbegleitern mit 8 US-Dollar angegeben worden.

Das war eine prima Idee, denn auf dem Papier fand sich kein Betrag. Stattdessen war wenigstens per Hand „Gate 10“ hingeschrieben worden, was ja auch recht praktisch war, denn niemand wusste, von wo wir weiterfliegen, noch wann wir weiterfliegen sollten. Nun ja 8 US-Dollar kann viel bedeuten, wenn im Flughafen alles in der brasilianischen Landeswährung angegeben war. Durch den schwachen Dollar, war es natürlich höchst schwierig in der Cafeteria den etwaigen Wert zu taxieren. Am Ende hatte es für ein Wasser, einen Kaffee und eine Empanada (Teigtasche) gereicht– Zumindest wenn die nette Bedienung einfach mehrere Gutscheine zusammenrechnete, da einige andere Reisende lediglich einen Kaffee orderten. Pragmatismus pur!

Das Ziel Punta Arenas war nach 24 Stunden Flug erreicht
Das Ziel Punta Arenas war nach 24 Stunden Flug erreicht

Dieser äußerte sich auch in der Bezeichnung des Fluges, der in Frankfurt noch mit LTU LT9061 gestartet war. An Bord konnte man dann schon die Air-Berlin-Übernahme erahnen, denn das Bordmagazin hieß schon wie die Muttergesellschaft, genauso wie die Außenverpackung der Sandwichs, wohingegen die Brötchen noch in einem LTU-Karton gereicht wurden. Auf der Südhalbkugel angekommen, war dann die Namensänderung vollkommen: Mangels LTU-Logo war nun eines der amerikanischen Airline Delta angezeigt, denn was haben LTU, die Mutter Air Berlin und Delta gemeinsam? Richtig, sie haben rote Logos! Und was liegt da näher, als das Delta-Logo auf der Anzeigetafel zu nutzen. In der Spalte „Remark“ war dann die erklärende Bezeichnung „TPS-01″ angegeben. Was das wohl heißen mag? Auf jeden Fall war plötzlich“Gate 7“ für den „Delta-Flug“ angegeben.

Nun ja beim Kaffeetrinken im Wartesaal durfte dann im Land des Rekordweltmeisters wenigstens Fußball im TV geguckt werden (Luton vs. Liverpool und Andrej Voronin saß wie bei ehemaligen 05ern üblich natürlich auf der Bank). Und eingestiegen wurde schließlich weder von Gate 10 noch von Gate 7 sondern von Gate 9 – wie uns der Angestellte persönlich mitteilte. Ansagen sind in Sao Paulo morgens um sechs wohl noch nicht so angesagt. An Bord wurde uns dann mitgeteilt, dass der Flugplan gerade erst eingetroffen sei. So hatten wir eine weitere Verspätung von ca. 30 Minuten– aber was soll’s. In fünf weiteren Flugstunden ging es auf das letzte Teilstück, um nach 3878 km nun endlich in Punta Arenas anzukommen. Wir rollten auf die Parkposition und dachten, wir hätten es geschafft. Doch zu früh gefreut und zu weit gerollt: Die Fluggastbrücke konnte nicht angelegt werden und somit mussten wir auf einen Flugzeugschlepper warten, der die Maschine schließlich zwei Meter zurückdrückte, ehe wir nach 23 Stunden und 56 Minuten endlich in Punta Arenas angekommen waren und chilenischen Boden betreten durften.

Punta Arenas, Chile
Punta Arenas, Chile

Dies war der Tag der Superlative, denn nachdem ich gerade ich meinen längsten Flug in meinem Leben ohne Thrombose überstanden hatte, schaffte ich auch gleich noch den kürzesten Aufenthalt meines Lebens in einem fremden Land – innerhalb eines Tisches am Flughafen Punta Arenas. Der erste Beamte am Tisch drückte mir den Einreisestempel nach Chile in den Pass hinein, ehe seine Kollegin, die dreißig Zentimeter neben ihm saß, mir bereits schon wieder den Ausreisestempel verpasste.

Dieser „Rausschmiss“ aus Chile war allerdings Programm, denn wenig später saß ich bereits an Bord meines Schiffes, der MS Vistamar, um völlig unspektakulär einfach so mir nichts dir nichts in See zu stechen und Chile wieder zu verlassen. Zunächst waren die letzten Häuser verschwunden, dann der Empfang per Handy und schließlich das südamerikanische Festland. Durch die Magellan-Straße schipperte das Schiff nach Süden, an immer höher hinaus ragenden Felseninseln vorbei, die mehr und mehr Schneeflächen aufwiesen. Aus dem Schnee wurden schließlich Gletscher, aus dem ruhigen Fahrwasser, schäumende Wellen und aus dem strahlend blauen Himmel, gespenstische weiß-schwarze Wolkenstimmungen. In diesem Teil der Welt zieht die Natur ein sagenhaftes Schauspiel mit Licht und Schatten, Wolken und blauen Himmel ab, so dass das Zuschauen an Deck niemals langweilig wird. Ab und zu wurde das Schiff von posierenden Orcas (große Schwertwale) und Vogelschwärmen begleitet – kein Wunder, denn was sollen die Tiere in diesem abgeschiedenen Teil der Welt auch anderes tun. Die Temperatur von ca. 13° C wurde durch den aufkommenden Wind gefühlt, auch immer niedriger und so langsam tuckerten wir dem Ende der Welt und der ersten Nacht entgegen.

Magellan-Straße, Chile
Magellan-Straße, Chile

Am nächsten Morgen lief das Schiff, nachdem es sich kurzzeitig auf dem offenen, schaukelnden Pazifik befand, ostwärts in den Beagle-Kanal ein. Das Wetter zeigte sich wieder von seiner besten Seite. Strahlend blauer Himmel, ruhige See, steile Felshänge mit hohen Wasserfällen und Gletscher, die direkt ins Meer hinabstürzten, bildeten eine faszinierende Szenerie, zu der es sich sehr gut frühstücken ließ. Mittags wurde, nach ca. 520 km Seereise, die wahrscheinlich südlichste Stadt der Welt, Ushuaia erreicht.

Beagle-Kanal, Chile-Argentinien
Beagle-Kanal, Chile-Argentinien

So ganz sicher mit diesem Superlativ kann man nicht sein, da auf der Südseite des Beagle-Kanals die Chilenen mit dem Kaff Puerto Williams (2.000 Einwohner) diesen Titel beanspruchen. Aber auch die sehr künstlich anmutende argentinische Stadt Ushuaia (60.000 Einwohner), auf der Nordseite des Kanals gelegen, hat mit dem Begriff Stadt recht wenig zu tun. Chile und Argentinien stritten sich in der Historie nicht nur um solche Lappalien, wer die südlichste Stadt der Welt nun innehat, sondern auch um die große Insel im Süden Südamerikas: Feuerland.

Auf dieser vermutete man große Ölvorkommen – Grund genug für Menschen, bekanntlich auch in anderen Teilen unserer Erde einen Krieg anzufangen. Dieser wurde in den 80ern des letzten Jahrhunderts in letzter Minute durch Papst Johannes Paul II. verhindert, da beide Staaten erzkatholisch sind und der friedliebende Papst seine Autorität für den Frieden erfolgreich einsetzen konnte. Der Name Feuerland stammt vom Seefahrer Magellan, der bei seiner Weltumsegelung von 1519 bis 1522 Feuerland „entdeckte“ und die Passage zwischen dem südamerikanischen Festland und der Insel als erster Europäer durchfuhr. Er nannte sie so, da er überall aufsteigende Rauchsäulen entdeckte. Diese stammten von den dort lebenden indigenen Einwohnern. Für diese war das Feuer dermaßen existenziell wichtig, da es wegen der niedrigen Temperaturen, die hier schon immer vorherrschten, es ein fatales Geschehen gewesen wäre, wenn ein Feuer einmal ausgegangen wäre. Durch die Ankunft der Europäer geschah langfristig mit den Ureinwohnern, das, was auch im restlichen Teil der Welt leider immer wieder geschah: Sie wurden durch eingeschleppte Krankheiten und Jagd auf sie selbst, innerhalb von ca. 30 Jahren ausgerottet.

Ushuaia, Argentinien
Ushuaia, Argentinien

Heute ist Ushuaia lediglich ein Verkehrsknotenpunkt, um den Feuerland-Nationalpark zu besuchen, oder einfach mal die Panamericana, die Straße, die sich durch ganz Amerika zieht, rund 17.000 Kilometer nach Norden zu fahren, um nach Alaska zu gelangen. Gut, ich hatte heute Alaska nicht auf dem Programm, also ging es mal wieder ein wenig wandern und die Natur genießen. Diese ist auch am südlichen Ende der Welt nicht ganz so paradiesisch, wie wir es uns vielleicht gerne vorstellen, denn der Mensch versucht ja immer irgendwie Profit zu machen. Und die ersten Siedler hier unten, dachten, wir kopieren mal das, was ganz oben im Kontinent gut funktioniert: der Handel mit Biberpelzen. Also wurden diese Viecher aus Kanada importiert und nach ein paar Jahren stellte man fest, dass man mit diesen Pelzen nicht reich werden würde. Dafür vermehrten sich die Tiere sprunghaft, mangels natürlicher Feinde, und setzten erstmal die Insel Feuerland unter Wasser, da sie ja so gerne Dämme bauen. Diese sind auch heute noch zu bewundern, denn als Jagdobjekt taugen Biber nicht, da sie als Wild nicht kulinarische Begeisterungsstürme hervorrufen und auch der staatlich geförderte Abschuss dieser Spezies nur rund 15 Euro pro Skalp einbringt. Aufgrund der Scheu und Nachtaktivität ist dies ein eher schwieriger und folglich unrentabler Nebenverdienst.

Ein anderer Flop mit der Einfuhr fremder Tiere, waren die Kaninchen. Auch diese vermehren sich unkontrolliert und auch diese führen mangels natürlicher Feinde ein geruhsames Leben in der neuen Welt. Für Argentinier kommen diese Lebewesen auf dem Speiseplan nicht vor, da für die Chicas und Chicos dieses Teils der Erde, Fleisch nur dann als Fleisch gilt, wenn es mindestens schuhsohlengroß ist und die Dicke eines Brötchens hat. Somit werden Kaninchen nicht als Jagdtrophäe akzeptiert, anders als bei ihrer Einführung durch hungrige Soldaten am Ende des vorletzten Jahrhunderts.

Feuerland-Nationalpark, Argentinien
Feuerland-Nationalpark, Argentinien

Das Wandern im Feuerland Nationalpark bietet vor allem meteorologisch gesehen permanent eine Abwechselung, da hier April-Wetter praktisch Programm ist. Kaum gibt es einen Platzregen mit heftigem Sturm und kaum hat man sich entsprechend in Gore-Tex-Jacke und Wanderstiefel gezwängt, da scheint schon wieder die Sonne und man fängt im Südsommer bei 15° C und Windstille sofort an zu schwitzen. Das Wandern durch die Moore und die subpolaren Urwälder mit ihren von Flechten überzogenen Bäumen und den von Moos bewachsenen Felsen war gerade zum Abtrainieren von auf dem Schiff angefressenen Fettreserven eine gute Idee. Schließlich war das erste, was man nach der Rückkehr auf das Schiff machte Essen. Um kurz vor Mitternacht: Essen, morgens von acht bis zehn: Essen, mittags Essen, nachmittags Essen und schon war wieder ein kulinarisches 24-Stunden-Programm vorbei. Die Kunst auf Schiffsreisen besteht meiner Meinung darin Verzicht zu üben, hauptsächlich bei der Völlerei, aber auch bei alkoholischen Getränken.

Schließlich sind Fahrten in diesem Teil der Erde nicht immer ein beschauliches Vergnügen: Durch das östliche Ende des Beagle-Kanals schipperten wir durch die Nacht nach Süden und der Wellengang wurde immer heftiger. Die Bullaugen in diesem Teil der Welt müssen bei Schiffen permanent aus Sicherheitsgründen verschlossen sein, so dass ich von außen nur das Gurgeln und Gluckern hören konnte, wenn das Schiff bei jeder Welle in die Tiefe abtauchte. Morgens passierten wir schließlich das berühmte Kap Hoorn, den angeblich südlichsten Punkt Südamerikas. Dabei ist Kap Hoorn lediglich ein 424 m hoher vorgelagerter Fels. Kap Hoorn wurde 1616 von zwei holländischen Seefahrern „entdeckt“ und diese nannten es Kap Hoorn einfach und pragmatisch nach einem ihrer Segelschiffe „Hoorn“. Die chilenischen Inseln Diego Ramirez liegen 100 km südwestlich von Kap Hoorn und stellen den eigentlich südlichsten Punkt Südamerikas dar, oder sollte vielleicht der südlichste Punkt Feuerlands in der Nähe von Ushuaia dies sein oder gar lediglich der südlichste Punkt des südamerikanischen Festlands?

Kap Hoorn, Chile
Kap Hoorn, Chile

Mit Extremen ist es halt immer extrem schwierig. Auf jeden Fall herrschte beim Passieren von Kap Hoorn extremes Wetter – obwohl nur Windstärke 6 herrschte. Hier treffen die Wassermassen von Pazifik und Atlantik aufeinander. Dieses Meeting äußert sich in fünf, sechs Meter hohen Wellen und einem Wind, der mich fast umgeschmissen hat. Das Schiff schwingt dementsprechend nach links und rechts sowie nach vorne und hinten. Das Sich-Fortbewegen fällt einem bei so einem Wellengang schon sehr schwer, etwa so wie nach einer gut durchzechten Nacht an Land. Man muss sich beim Laufen gerade auch im Inneren des Schiffes überall festhalten, wenn man am Ende der Seereise nicht total verbeult ankommen will. Auch der Magen stellt sich auf dieses Schwanken recht schnell ein und reagiert oft mit einem Über-Bord-Werfen von unnötigem Ballast. Daher war es ein guter Einfall, alle zwei Meter kleine Plastikbeutel zu postieren, die in relativ kurzer Zeit vom großen Teil der Reisenden wohl in Anspruch genommen wurden. Den Pillen meines heimischen Pharmazeutinnensupport sei Dank und ich überstand die Überfahrt bisher ohne Umkehrschub in der Magenregion.

Das ganze Schwanken und Wanken ist allerdings beste Übung für die bald anstehende Fastnacht im „goldischen Meenz“ und es war nett anzusehen, sich auf der Toilette festzuhalten und Labello- und Lippenstifte beim Hin- und Herschunkeln zu bewundern, genauso wie Zahnputzbecher und aufgehängte Handtücher. Abends lädt dazu die Showband ein, sich auch schon musikalisch auf die närrischen Tage einzustellen, so dass ich bei meiner heutigen Rückkehr nach Mainz karnevalistisch nicht ins Hintertreffen geraten bin, Helau! 

Kapsturmvögel und Albatrosse, Süd-Ozean
Kapsturmvögel und Albatrosse, Süd-Ozean

Irgendwann beruhigte sich das Meer wieder ein wenig und wir wurden auf der Fahrt nach Süden von Kapsturmvögeln, Südlichen Riesensturmvögeln und Albatrossen begleitet. Die Vögel schwirrten stundenlang am Heck des Schiffes hinterher. Je weiter es nach Süden ging, desto zahlreicher wurden die fliegenden Begleiter. Eigentlich sah es immer unwirtlicher aus und ich hätte ohne die Tiere das Gefühl gehabt, wirklich so langsam das Ende der Welt erreicht zu haben. Zu den fliegenden Begleitern gesellten sich am Abend des zweiten Tags auf offener See dann plötzlich auch Wale, was zunächst am Auspusten vom Luft-Wasser-Gemisch erkennbar war. Und plötzlich näherte sich auch der erste einzelne Eisberg. Einige Stunden später fühlte ich mich schon fast von diesen gefrorenen Kolossen umzingelt, und die Zahl der Vögel, die uns weiterhin unablässig folgten, stieg in die Hunderte. Nach fast 50 Stunden Überfahrt, die See hatte sich zum Glück längst beruhigt, kamen die ersten Eispanzer des Festlands der Süd-Shetland-Inseln zum Vorschein. Was ich dann da unten ganz im Süden unserer Erde alles so erlebte, erzähle ich Euch im zweiten der Teil.

Osteuropa 2007 letzter Teil

Guten Tag aus Mainz!

Hatte ich beim Verlassen von Rumänien über die teilweise konstant schlechte Strass geschimpft, dann wusste ich noch nicht, was mir in der Republik Moldau bevorsteht – zumal die ersten Kilometer auf einer Betonpiste sich gar nicht so schlecht anließen. Aber dann mutierte einerseits die Straße in eine Trasse, die alle drei bis vier Meter quer über die Fahrbahn wie ein Keks durchgebrochen war. Das Vorwärtskommen ähnelte dem Radeln auf Eisenbahnschwellen und dies tat meinem Hintern mehr als weh. Um eine Reise vorzubereiten, liest man für gewöhnlich sich mit einem Reiseführer ein. Meiner laberte etwas davon, dass das Radeln wegen der schlechten Strassen strapaziös sei – aber das Land „flach wie ein Brett sei“. Hm, der Reiseführer stammt aus Australien und vielleicht heißt dort die Bezeichnung „flach wie ein Brett“, dass man in Downunder von der Vertikalen spricht. So in etwa sind dann in der Realität auch wirklich die Strassen angelegt: Mir gingen immer wieder die Worte „hoch und nieder immer wieder“ im Kopf rum, denn es ging immer einen Hügel hoch und sofort wieder runter und wieder hoch und… Vielleicht hatten die Aussies auch nur ein Brett vorm Kopf, denn so eine Aussage zu treffen, da muss man schon ganz schön neben der Spur sein.

Die hügelige Landschaft und die Schwellenstraße als Pappelallee angelegt, luden zum Dauer-Picknicken ein. Als dann noch die ersten Pinienwälder und die Myriaden von Weinbergen auftauchten, kam ich mir vor, als ob ich in der Provence oder der Toskana durch die Gegend holpere – OK die Strassen ließen mich wieder daran erinnern, dass ich in Moldau unterwegs war. Der Verkehr nahm immer mehr zu und irgendwie überholten mich kaum Ladas oder Dacias, die rumänische Automarke, sondern nur deutsche Wertarbeit. Die Moldauer scheinen es zu lieben, unter einem guten Stern oder mit weiß-blauem Karologo durch die Gegend zu düsen. Das Tempolimit hängt eher vom Verkehr, dem Straßenzustand und den Witterungsbedingungen ab als von irgendwelchen, zum Teil handgemalten, Verkehrszeichen. Ich kam mir wie ein Zuschauer einer Autowerbung bei einer Pause der „Sportschau“ vor. In vielen Ländern fahren ja die Reichen deutsche Kisten. Diese sehen dann aber schon meist sehr mitgenommen aus, es fehlen Außenspiegel oder das Model ist nicht mehr ganz das neueste. Hier könnte man die IAA direkt auf der Landstrasse abhalten. Nur die Top-Modelle holpern durch dieses kleine Land. Und jetzt verstehe ich auch, warum es fast in jedem Kaff eine Waschanlage gibt.

Nach 165 Kilometern erreichte ich schließlich mit dem Sonnenuntergang die Außenbezirke von Chisinau, das mal wieder in einer Mulde liegt – aber dessen Strassen halbwegs gut geteert waren. Kopfsteinpflaster scheint in Moldau glücklicherweise unbekannt zu sein. Dafür herrschte wohl Bettenknappheit, da die billigen Hotels alle voll waren. Schließlich fand ich Unterschlupf in einer 17-stöckigen Touri-Kolchose, und mein Rad landete auf dem bewachten Hotelparkplatz neben einer Harley und einem Mercedes Coupé. Auf der Hotelsuche bin ich an einem Schickimicki-Restaurant nach dem anderen vorbeigefahren. Dabei bin ich doch gerade in der Hauptstadt des ärmsten Lands Europas angekommen. Der Durchschnittslohn liegt bei 70 US-Dollar im Monat!

Hm, was soll ich in einer solchen Situation machen? Ich beschloss, die Frage lieber mal zu ignorieren, woher all die Kohle stammt, die hier protzig zur Schau gestellt wird. Vielmehr genoss ich die kulinarisch wirklich extrem gute Restaurantszene und wunderte mich nicht weiter. Vielmehr staunte ich über das „Beer House“, die erste Gasthausbrauerei in Chisinau und das ungefilterte, kühle Blonde, das hier frisch gezapft in Weizengläsern serviert wird. Auch die Speisen waren wie bspw. Truthahn in Banane sehr kreativ und langsam verstand ich die Welt an diesem Ort nicht mehr. Denn auch auf der Strasse sind Bettler, wie übrigens auch in Rumänien und der Ukraine die totale Seltenheit. Niemand läuft zerlumpt durch die Gegend. Die High-Heels-Komune aus L’viv ist hier weniger anzutreffen als die edle Flip-Flop-Brigade, was auch ohne Kopfsteinpflaster auf einen deutlich größeren Pragmatismus der moldawischen Damenwelt schließen lässt.

Die Stadt selbst, würde man die reinen Fakten gelten lassen, wäre als potthässlich zu bezeichnen. 1940 durch ein Erdbeben praktisch schon am Tropf hängend, machte der 2. Weltkrieg der im 15. Jhdt. gegründeten Stadt den Garaus. Das Land, früher unter dem Namen Bessarabien bekannt, war mal kurz nach der Oktoberrevolution der Russen 2 Monate unabhängig. Sonst gehörte es entweder als Provinz Moldawien zu Rumänien oder zu den Russen bzw. ab 1945 als Moldawische Sozialistische Sowjetrepublik zur UdSSR. Und so hielten die Plattenbauten Einzug in der zerstörten Stadt. Doch irgendwie waren die Planer auf dem grünen Trip und so ist die im Schachbrettstil angelegte Stadt mit Alleen und Parks durchzogen. Das dichte Blätterdach liegt wie ein Schleier auf den Häuserschluchten, das jeden Blick nach oben auf die Betonklötze dezent unterbindet. Dadurch guckt man automatisch nur in die Strasse, und so fühle ich mich in der Stadt sogar sehr wohl. Die zum Teil sehr hübschen Menschen flanieren die breiten, panzertauglichen Boulevards entlang, und dabei ist alles nur eine Frage des Sehens und Gesehen Werdens.

Was mich weiterhin in diesem Land irritiert ist die Sprache, die hier gesprochen wird. Offiziell wurden, Gorbi sei Dank, 1988 zunächst einmal wieder die lateinischen Schriftzeichen und „Moldawisch“ eingeführt. Trotzdem finden sich sogar noch Verkehrsschilder vereinzelt in kyrillischen Schriftzeichen. Auf der Straße höre ich auch mehr slawische Gesprächsfetzen – also entweder russisch oder ukrainisch. Das mit dem „Moldawischen“ ist eigentlich ein Witz, denn es ist handelt sich dabei höchstens um einen Dialekt der rumänischen Sprache. Doch in einem Anflug von übertriebenem Nationalstolz wurde sogar ein Moldawisch-Rumänisch-Wörterbuch publiziert. Dies würde in etwa einem Meenzerisch-Deutsch-Wörterbuch entsprechen. Doch das Wörterbuch ist nur ein Mosaikstein für die Politik, die hier betrieben wird. Präsident Voronin versucht sowohl mit Russland zu kuscheln, in dem er sich von den rumänischen Wurzeln, die hier überall existieren, distanziert. Gleichzeitig kuschelt er mit EU und NATO um Hilfe zu ergattern, die dieses Land bitter nötig hat – trotz all dem Protz auf der Gasse.

Die Menschen, denen ich hier begegne, freuen sich über uns Touristen – denn wir haben hier Seltenheitscharakter. Viele haben in der Schule Deutsch gelernt, der DDR sei Dank, und nun versuchen sie ihre verrosteten Deutschkenntnisse aufzufrischen. Dies geschieht nicht aufdringlich sondern eher nebenbei, wie bspw. bei den Parkwächtern meines Rads. Fußball und die EM-Qualifikation ist natürlich ein gutes Thema und schon saß ich in dem Häuschen der Parkwächter und es wurde über die Quali-Chancen von Russland und Rumänien diskutiert – Moldau hat sowieso keine Chance – und aus der ehemaligen Sprudelflasche wurde mir plötzlich Rotwein serviert. Wenn man etwas über Moldau weiß, dann vielleicht, dass dieses Land praktisch nur aus Weinbergen besteht und die Qualität des Traubensaftes sagenhaft ist. So war auch der Rotwein im Parkhäuschen außergewöhnlich gut (verträglich).

Nachdem ich die Stadt erwandert hatte, machte ich mal wieder einen Radausflug. Die Touri-Attraktion schlechthin von Moldau ist ein Kloster, das in den Sandstein an einer Flussschleife gehauen wurde. Dementsprechend begegneten mir doch tatsächlich drei „Touristen“, die aber eigentlich geschäftlich hier zu tun hatten. Zunächst versuchte ich das Kloster über die Trampelpfade am Felsrand zu erreichen, was aber unmöglich war. Die Fenster des Klosters waren wie bei den Feuersteins in den Fels gehauen, doch um dort hinein zu gelangen musste ich den Tunnel finden. Eine große Holztuer, die eigentlich verschlossen aussah, ließ sich dann doch mit etwas Kraftaufwand öffnen. Über eine Treppe im Finsteren gelangte ich schließlich durch den Fels ins Kloster, wo ich von einem einsamen Mönch mit wehenden, langen, dünnen, grauen Haaren und Rauschebart empfangen wurde. Der große Raum wirkte mit vielen Jesus- und Marienbildern und dem goldenen Altar etwas überladen – dennoch besaß er eine sehr zur Besinnung einladende Atmosphäre.

Sehr unbesinnlich, weil wieder auf der Straße, radelte ich von Chisinau weiter in Richtung Südosten weiter, Odessa, dem Ziel meiner Radtour entgegen. Eigentlich wäre es am einfachsten gewesen, diese Distanz von ca. 175 Kilometern mit einem Übernachtungsstopp in Tiraspol zurückzulegen. Doch der Geschichte sei Dank, haben die Menschen mal wieder mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. So einfach so ans Schwarze Meer zu radeln, das geht ja gar nicht. Schließlich gibt es in Moldau den Fluss Dnjestr, halb so breit wie der Rhein, dafür doppelt so wichtig als Grenze zwischen zwei Kulturen. Südlich des Dnjestr leben hauptsächlich Moldauer mit rumänischen Wurzeln, nördlich davon im so genannten Transnistrien Moldauer mit russischen und ukrainischen Ursprüngen. Als es mit der UdSSR rapide bergab ging, steigerte sich das Besinnen auf die jeweilige Vergangenheit ins Unermessliche. Transnistrien befürchtete eine Wiedervereinigung Moldaus mit Rumänien, wohingegen Moldau unabhängig von allen werden wollte und Transnistrien eher bestrebt war, die Sowjetunion wieder aufleben zu lassen. Es kam 1992 zum Bürgerkrieg im Hinterhof Europas, den natürlich niemand so richtig gewann. Aber seither ist Transnistrien ein Staat im Staate, mit eigener Währung, eigener Fahne, eigener Armee, eigener Polizei und eigenem Selbstverständnis von einem Land – schließlich wird es von keinem Staat der Welt anerkannt. Dieses Selbstverständnis bringt mir als Reisendem aber nicht viel, denn in Transnistrien haben Hard-Core-Stalinisten das Sagen, die das Wort Rechtsstaat sicherlich noch nie gehört haben. Theoretisch ist es möglich, durch diese abtrünnige Region zu reisen, doch leider ändern sich die „Einreisebestimmungen“ schneller, als die Transfergerüchte bei manch einem Fußballspieler und zweitens wird der jeweilige zu entrichtende Betrag zum Erhalt der „Ein- bzw. Ausreisegenehmigung“ individuell festgelegt – sprich der Korruption und der Willkür sind hier Tür und Tor geöffnet.

Also wurde das nix mit Transnistrien, und ich bog von der Holperstraße Richtung Stalinismus pur nach Süden ab, um zur ukrainische Grenze zu strampeln. Allerdings begab ich mich mit dieser Routenänderung mal wieder in eine sehr prekäre Lage. Wo würde es auf dieser Strecke ein Hotel geben? Darf ich als Tourist die Grenze dort überschreiten? Schließlich sind manches Mal auf unserem Planeten nicht alle Grenzen für Jedermann geöffnet. Ja gibt es überhaupt Restaurants im Süden Moldawiens und führt die Strecke nicht womöglich doch noch über das Gebiet von Transnistrien, das sich sporadisch auch über den Fluss nach Süden ausstreckt?

Peu à peu wurden mir meine Sorgen genommen. Zunächst sah ich schon mal Vehikel mit ukrainischen und russischen Nummernschildern, Busse mit den Schildern „Odessa-Chisinau“ darauf geschrieben und Corps Diplomatique Kennzeichen. Also war die Grenze offen und der Umweg über Südmoldau, um Transnistrien zu umgehen, wohl berechtigt. Dann fand ich in einem Ort ein Restaurant, wo mir nach längerem Hin- und Her die Frage gestellt wurde, was ich denn essen möchte, denn es gab keine Karte und der Wirt machte mir den Anschein, dass ich ihn mit meinem Hungergefühl überraschte. Mir fielen die rumänischen Wörter „porc“ (Schwein), „cartofi“ (Kartoffeln) und „salat“ ein und ruckzuck landete ein Wiener Schnitzel mit Pommes und Salat auf meinem Tisch.

Die Marketing-Strategie der Werbung für ein Hotel in einem Weingut wurde mittels großer Tafeln am Straßenrand bis zum Exzess durchgeführt, und ich wich von meinem ursprünglichen Plan ab, in einem einfachen Gasthaus zu nächtigen, welches in meinem Reiseführer aufgelistet war. Ich hatte eh kein großes Vertrauen mehr in diesen Reiseführer, da viele Dinge, die es vielleicht einmal in Moldau gab, plötzlich nicht mehr gab. Dafür gab es ja bekanntlich umgekehrt auf einmal viele Hügel, die die Autoren des Reiseführers als „flach wie ein Brett“ bezeichneten. Ich bog von der Straße nach 120 Kilometern ab und rollte zum Dnjestr 5 Kilometer steil bergab, um dann vor der Hotelpforte von einem Wächter im Kampfanzug begrüßt zu werden. Anscheinend hatte man keine Lust für einen Gast die Tür zu öffnen und mit einem „Njet“ verstand ich, dass ich jetzt ein Übernachtungsproblem hatte. Da man in Moldau immer einen Plan B haben muss, radelte ich eine Abkürzung in das Dorf, in dem es angeblich ein Gasthaus gab. Nach ca. 20 Kilometern auf der Schotterpiste erreichte ich den Weiler. Im Buch stand eine Telefonnummer, niemand nahm ab, aber es gab ja auch eine Adresse – dumm nur, dass es in dem Dorf gar keine Straßennamen, geschweige denn Hausnummer gab. Und die Einheimischen wussten nichts von einem Gasthof!

Samstag Abends kurz vor Sonnenuntergang in Südmoldawien hatte ich nun echt ein Problem. Wo sollte ich ohne Zelt übernachten. Nach 2 Stunden befand ich wieder an der Kreuzung an der ich ursprünglich zum ersten Hotel abbog und fuhr weiter. Natürlich muss man auch mal Glück haben und dieses fand ich in Form einer Fernfahrerkneipe – der einzigen die ich in 391 Kilometern Moldau-Radeln fand. Ich durfte die Nacht in der 24 Stunden lang geöffneten Kneipe verbringen. Allerdings kamen dann die Fernfahrer in den Gasthof, gaben mir einen „Schnaps“ wie sie sagten nach dem anderen gegen meinen Willen aus. Es war natürlich Wodka und am Ende des Abends boten sie mir an, auf der Pritsche in der LKW-Kabine zu nächtigen. Mit Ohropax hielt ich auch das Geschnarche eines moldauischen Fernfahrers aus und war froh ein Dach über dem Kopf für die Nacht gefunden zu haben.

Am nächsten Morgen rollte ich ohne Kater halbwegs ausgeschlafen zur Grenze, wurde von den Beamten wieder zuvorkommend bedient und war ruckzuckwieder in die Ukraine eingereist. Da meine beiden Karten sich mit den Entfernungen mal kurz um 40 Kilometern verrechneten, brauchte ich nur 85 statt 125 Kilometer, um in Odessa am Schwarzen Meer anzukommen. Kaum im Hostel – oh ja! – angekommen, zu Mittag gegessen, fuhr ein Bus mit dem Team von Schachtjor Donetsk an mir vorbei. Als dann die ersten Fans mit Schwarzmeer-Odessa-Fanschals an mir vorbeimarschierten, nahm ich die Fährte gemeinsam mit einem Engländer auf, ukrainische Bundesliga live im Stadion zu verfolgen. Das Stadion liegt wie das Volksparkstadion in Hamburg in einem riesigen Park und anders als in Mainz gab es an der Tageskasse noch Karten für das Spiel. Stadionzeitungen wurden auch verkauft – allerdings hatten diese keinen Informationscharakter sondern schützten den ukrainischen Hintern vor dem Schmutz auf den Sitzen.

Als Snack auf den billigen Plätzen gab es Popcorn und Schrimps aus der Papptüte. Um das Anstehen für Getränke zu verkürzen wurde das Bier kurzerhand einfach in 1-Liter-Plastikflaschen verkauft, mit denen man allerdings dann nicht mehr auf die Sitze durfte. Vielmehr fristeten wir Biertrinker unser Dasein in der Verbannung am oberen Tribünenrand. Das Spiel war vor allem aus Sicht von Donetsk recht schlecht, denn die spielen ja regelmäßig UEFA-Cup und dafür war dieses 0:0 einfach grottig. Die Zuschauer machten allerdings gut Stimmung und so war der Sonntag Nachmittag gerettet. Außer Fußball gucken, lieben es die Bewohner von Odessa sich an den Strand zu knallen oder in der Innenstadt flanieren zu gehen. So ließ auch ich das Ende dieser Reise gemütlich am Schwarzen Meer ausklingen. Nach 1.145 Radel-Kilometern durch eine für mich davor sehr unbekannte Region unseres Kontinents, bin ich von den bereisten Ländern wirklich sehr angetan. Vielleicht ist es jetzt und in den nächsten beiden Jahren wirklich die beste Zeit, diese verborgenen Perlen zu entdecken, bevor L’viv wie Prag von Kulturtouristen überrannt, Moldawien von Weinbegeisterten überflutet und Odessa wie Mallorca von Partytouristen übervölkert wird.