Aufräumen im eigenen Kopf

Eigentlich ist rein biologisch gesehen alles ganz einfach. Wir sind irgendwann auf diesem Planeten geboren worden. Diese Gemeinsamkeit haben wir alle auf unserer Erde. Die zweite Gemeinsamkeit: Irgendwann gehen bei uns allen die Lichter wieder aus.

Das war es allerdings mit den Gemeinsamkeiten auch schon. Das, was zwischen Geburt und Tod liegt, nennen wir bei Pflanzen, Tieren und Menschen Leben. Das Leben der Pflanzen und der Tiere klammere ich dieses Mal bewusst aus, obwohl es natürlich angebracht ist, diese Lebewesen zu respektieren, zu schützen und sich für sie einzusetzen – alleine schon deswegen, damit wir und unsere Nachkommen eine lebenswerte Welt vorfinden.

Wir Menschen sind bei der Geburt alle gleich. Kein Kind kommt mit einer implementierten Kreditkarte ohne Limit oder einer eingeimpften Staatsbürgerschaft auf die Welt. Wir alle erblicken mehr oder weniger auf dieselbe Art und Weise das Licht der Welt. In eben jenem Moment allerdings gelten bereits Konventionen, die nicht natürlich sind, sondern von Menschen festgelegt wurden.

Welchen Sechser die meisten von uns im „Geburtslotto“ hatten, ist uns sicher nicht immer bewusst. Als Deutsche Staatsbürger haben wir seit unserer Geburt zahlreiche Privilegien, die uns in die Wiege gelegt wurden – ohne unser Zutun. Wir hätten auch Staatsbürger eines der anderen fast 200 Länder dieser Welt werden können. In den meisten Fällen wäre damit der Start ins Leben wahrscheinlich schwieriger ausgefallen. Das fällt mir aktuell wieder ein, da wir uns aufgrund der Pandemie in einer Ausnahmesituation befinden: Als Deutsche haben wir eine Bewegungsfreiheit ohne Gleichen. Wir können die meisten Ziele dieser Welt besuchen, ohne begründen zu müssen, warum wir uns dorthin begeben möchten. Länder, Grenzen, Staatsbürgerschaften sind nicht einfach so vom Himmel gefallen. Manche Ländergrenzen wurden von Menschen mit dem Lineal gezogen. Für die meisten Menschen auf unserer Welt ist das Passieren einer Grenze ein Ding der Unmöglichkeit. Die älteren unter uns können sich noch an die innerdeutsche Grenze erinnern. Wollte man sich von Thüringen nach Bayern begeben, war das bis 1990 womöglich ein Todesurteil. Das ist gerade mal 30 Jahre her – doch im Vergessen und Verdrängen liegt eine unserer Kernkompetenzen. Möchten Menschen ihren aktuellen Wohnsitz verlegen, z.B. von Aleppo nach Mainz, dann scheitert das nicht daran, dass ein Ozean dazwischenliegt, sondern daran, dass wir Menschen Grenzen gezogen haben, die das verhindern. Ich durfte diese 1995 in umgekehrter Richtung relativ einfach passieren. Als Deutscher konnte ich mit dem Zug problemlos nach Österreich fahren. Ich bekam ein Visum für Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgestellt. Die Türkei ließ mich mit dem deutschen Pass ohne zusätzlichen Papierkram einreisen und auch für Syrien bekam ich, dem Bundesadler auf dem Pass sei Dank, das Visum problemlos ausgestellt. Ich galt als Tourist – jemand, der aktuell die umgekehrte Route mit einem syrischen Pass nimmt, gilt als Flüchtling. Definiert haben das Menschen – nicht Mutter Natur. Selbstverständlich wollte ich nur ein paar Tage in Syrien bleiben und umgekehrt möchte jemand, der bei uns Schutz sucht, so lange bleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Es geht bei dem Beispiel einfach darum zu zeigen, dass ein Stück Papier einen großen Unterschied macht – obwohl die Menschen biologisch gesehen nichts unterscheidet.

Voneinander lernen, wie hier in Sierra Leone, ist vielleicht das beste Mittel gegen Rassismus.

Kommen wir in Deutschland auf die Welt, ist die Chance relativ hoch, die ersten Tage zu überleben. Die Kindersterblichkeit ist weltweit von Land zu Land unterschiedlich. In Singapur, Island, Japan, Monaco und Slowenien liegt sie bei 2 Todesfällen pro 1000 Lebendgeborene, bei uns in Deutschland bei 3 und im Tschad bei 72, im Niger bei 79, in der Zentralafrikanischen Republik bei 84, in Somalia bei 93 und in Afghanistan bei 109. Natürlich herrscht in den letztgenannten Ländern ein anderes Klima. Das ist sicherlich noch nicht menschengemacht (wird es aber zunehmend, wenn uns Tiere und Pflanzen weiter egal sind). Die hohe Kindersterblichkeit liegt darin nicht begründet. Vielmehr ist sie darauf zurückzuführen, dass in all diesen Ländern Bürgerkriege die letzten Jahrzehnte geprägt haben. Diese Kriege sind kein Gesetz der Natur, sondern wurden von Menschen vom Zaun gebrochen. Die Gründe liegen teilweise einhundert Jahre zurück – z.B. in der willkürlichen Grenzziehung nach dem ersten Weltkrieg. Sofern wir jünger als 75 sind, ist die Chance relativ groß, dass wir noch nie einen Krieg miterleben mussten. Dass seit 1945 in Mitteleuropa Frieden herrscht, sehen wir oft als „natürlich“ an. Auf meiner Reise 1995 nach Syrien musste ich mich in Budapest entscheiden, ob ich über Belgrad oder Bukarest nach Istanbul reisen wollte. Niemand konnte mir in meinem Mainzer Reisebüro sagen, wie ich auf dem Landweg in die Metropole am Bosporus gelangen konnte. Daher besaß ich auch ein Visum für Rest-Jugoslawien. Von einer Reise dorthin wurde mir aber damals vom Auswärtigen Amt mittels der mittlerweile bekannten Reisewarnung abgeraten – weil in dieser Region gerade Krieg herrschte – eine Tages- und Nachtzugfahrt von Mainz entfernt. Das ist gerade mal 25 Jahre her und geographisch gesehen ebenfalls nicht sehr weit weg von uns.

Sprich – auf das Timing der Geburt kommt es an. Vor 1945 in Deutschland geboren worden zu sein, war nicht der oben genannte Sechser im Lotto. Und vor 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik geboren worden zu sein, vielleicht auch nicht. Ich schreibe „vielleicht“, weil ich es nicht miterlebt habe, das Leben in der DDR. Allerdings habe ich, seit ich denken konnte, mit dem Wort „DDR“ etwas assoziiert. Ich habe im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung über dieses Land etwas erfahren. Gespräche in der Familie über die DDR gab es kaum, weil wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Durch all die Einflüsse hat sich in meinem Kopf ein Bild der DDR geprägt. Es zeigt, dass ich nicht unvoreingenommen dieser DDR gegenübertrat. Ich habe Staatsbürger der DDR vor der Wende meines Wissens gar nicht getroffen. Trotzdem hatte ich mir ein Bild gemacht und in meinem Hirn etwas zu „DDR“ und den Menschen, die dort lebten, „abgelegt“.

Die Festung in Dakar, Senegal ist ein Relikt des Sklavenhandels – von hier wurden Schwarze Menschen nach Amerika verschifft. Der Spruch auf der Stehle blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.

Neben der „richtigen“ Staatsbürgerschaft und dem „richtigen“ Timing gibt es einen weiteren Faktor bei der Geburt, der den Start ins Leben massiv beeinflusst. Die bereits angesprochene imaginäre „implementierte Kreditkarte“ ohne Limit. Vor dem Gesetz sind wir Menschen in Deutschland alle gleich. Doch bei der Geburt entscheidet sich schon manchmal der gesamte Lebensweg. Qua Geburt sind wir bereits Erben. „Die Bundesrepublik gehört immer noch zu den OECD-Staaten, in denen der Schulerfolg eines Kindes deutlich enger vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt als in vielen anderen Ländern, sagt Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor.“ (Spiegel, vom 23.10.18) . Will sagen dass der Schulerfolg bei uns sehr wohl davon abhängen kann, ob man in eine finanziell gut ausgestattete Familie, bei der die Eltern Akademiker sind, hineingeboren wird, oder ob man in einer Familie aufwächst, die nicht so viel Kohle hat und in der die Eltern womöglich kein Abitur gemacht haben. Es macht auch einen Unterschied, mit welchem Geschlecht wir auf die Welt kommen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein hehres Ziel aber noch lange nicht erreicht.

Mit den bisherigen Zeilen wollte ich ausdrücken, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass wir so ein Leben führen, wie wir es aktuell führen – im Positiven wie im Negativen. Die Liste der oben genannten Beispiele ist sicher nicht abschließend. Jeder von uns hat Probleme und das Leben stellt uns jeden Tag vor neue Herausforderungen – das gilt für alle Menschen weltweit. Vielleicht haben die Beispiele gezeigt, dass es Wert ist, die eigene Situation neu zu betrachten. Durch den Ausbruch von Corona hat sich das Leben von uns allen verändert. Wir mussten in unserem Alltag Änderungen notgedrungen vornehmen. Wir haben aber auch gelernt, uns und andere zu schützen. Wir haben als Gemeinschaft gezeigt, dass wir bereit sind zu lernen, dass wir Änderungen in unserem Verhalten vornehmen können.

Wir können die Welt in ihrer Gesamtheit nicht „retten“. Wir können uns für die Schwachen der Gesellschaft engagieren, für die Gleichstellung der Geschlechter, für faire Arbeitsbedingungen, für das Klima und die Natur u.v.m. Das ist alles löblich und ich habe großen Respekt vor den Menschen, die sich jeden Tag dafür einsetzen, dass die Welt einen Tick „besser“ wird.

Ich erwarte so ein Engagement von Menschen für andere nicht – gerade weil viele Menschen auch in Deutschland große Probleme haben. Natürlich haben die eigenen Probleme Priorität. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir jeden Menschen nach seinem Handeln und Denken beurteilen sollten – nicht nach Staatsbürgerschaft, Alter, Geschlecht oder finanziellem Hintergrund. Aber das ist leider die graue Theorie. Schließlich gibt es da noch etwas, was uns Menschen unterscheidet: Die Hautfarbe.

Wenn man wie ich Rassismus nie erlebt hat, ist es fast unmöglich, nicht selbst das eine oder andere Mal in rassistische Denkmuster zu verfallen. Wer die bisherigen Zeilen gelesen hat, beweist Ausdauer. Diese Ausdauer kostet Zeit. Diese ist meiner Meinung auch notwendig, um „Rassismus [zu] entlernen“, wie Aminata Touré, Landtagsvizepräsidentin in Schleswig-Holstein sagt. Wir sollten „entlernen“, vielleicht sogar unbewusst, rassistisch zu agieren. Wir sollten Zeit investieren, um Artikel von Menschen zu lesen, die selbst von Rassismus betroffen sind und anschaulich beschreiben, wie Rassismus unterschwellig in unserem Alltag vorkommt – oft ungewollt und nicht so platt, dass jede*r bemerkt, um was es sich da gerade handelt. Ferner ist die Bereitschaft notwendig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das einen selbst gar nicht unmittelbar betrifft.

Ich habe die vorletzte Woche den Text von Alice Hasters im Deutschlandfunk gelesen „Warum weiße Menschen so gerne gleich sind“. Sie zeigt zahlreiche Ansätze auf, mit denen wir unser eigenes Denken und Handeln hinterfragen können. Zunächst einmal geht es um die Definition von Rassismus. Sie zitiert den amerikanischen Rassismusforscher Ibram X. Kendi, der Rassismus als „Jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet.“ definiert.

Diese Definition muss nach Hasters Meinung allerdings konkretisiert werden. Auf meinen Reisen durch Westafrika konnte ich an vielen Stellen koloniale Spuren des Rassismus an den Küsten des Senegals und Benins entdecken. Hier sind hunderttausende Schwarze Menschen verschifft worden, um in Amerika als Sklaven zu arbeiten. Organisiert wurde der Handel von Weißen, die sich den Schwarzen Menschen schlicht überlegen fühlten. Sie konstruierten „Rassen“ aufgrund der Hautfarbe. Daher ist die aktuelle Diskussion um das Entfernen des Wortes „Rasse“ aus dem Grundgesetz auch so wichtig – es gibt schlicht keine unterschiedlichen Rassen von Menschen. „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ stellt die Deutsche Zoologische Gesellschaft in ihrer Jenaer Erklärung fest.

Eine „Norm“ bei Menschen aufzustellen ist abwegig. Daher kann der weiße Mensch auch keine Norm sein.

 „Weiße Menschen haben die Theorie etabliert, dass Charaktereigenschaften, kulturelle und soziale Fähigkeiten mit biologischen Merkmalen zusammenhängen. Dieses System nennt sich White Supremacy – Weiße Vorherrschaft.“ so Hasters. Dieses Denken wurde in den letzten Jahrhunderten etabliert. Sklavenhandel wurde mit der Zeit weltweit fast überall verboten und auch der Kolonialismus ist seit nunmehr 50 Jahren mehr oder weniger passé. Doch es kommt auf das Denken und Handeln von uns an. Papier ist geduldig. Wir sollten uns selbst fragen, ob wir auf einen uns unbekannten Schwarzen Menschen, der uns begegnet, genauso reagieren, wie auf einen Weißen. Es muss unerträglich sein, jeden Tag auf der Straße anders angeschaut zu werden, als andere Mitbürger*innen. Hasters beschreibt diese so genannte „Mikroaggression“ als „Mückenstiche“. Wie die Reaktion auf Schwarze Menschen ausfällt ist ihrer Meinung nach zunächst unerheblich. „Rassismus ist nicht erst Rassismus, wenn er böse gemeint ist“. Dabei geht es auch um vermeintliche Komplimente, wenn Leute in ihre Haare fassen möchten, weil diese „anders“ sind. Das Aufstellen einer Norm (weißer Mensch ohne Kraushaar) wirkt auf Schwarze Menschen ausgrenzend. 1999 war ich mit einer blondhaarigen Freundin in Westafrika unterwegs. Viele Kinder sind vor ihr weggerannt, weil sie einen Menschen mit blonden Haaren noch nie gesehen haben. Wir haben das damals als lustig empfunden, gerade auch weil die Erwachsenen gelacht haben und die Situation dazu einlud, ins Gespräch zu kommen. Aber wenn tagtäglich Menschen vor mir eine solche Reaktion zeigen, kann ich die von Hasters erwähnten „Mückenstiche“ nachempfinden.

Wenn ich bisher gefragt wurde, warum ich so oft nach Afrika gefahren bin, habe ich meist geantwortet, der wunderschönen Natur aber auch der Menschen wegen. Ich habe bei den Schwarzen Menschen verallgemeinert: Coolness, Lebensfreue, Gelassenheit – das waren manche der Attribute, die ich mit den Menschen in Afrika assoziiert habe. Nach Hasters ist das auch eine Art Rassismus, den ich da an den Tag gelegt habe – was ich mittlerweile nachvollziehen kann. Schließlich wird nicht jeder Mensch Afrikas die genannten Attribute verkörpern.

Hasters geht auch auf die Argumentation ein, dass manche Menschen „keine Hautfarben sehen würden“. Sie ist der Auffassung, dass diese Leute nicht in der Lage sind, Rassismus zu erkennen. Spätestens da sind wir an dem Punkt angelangt, dass es notwendig ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Daher ist meiner Meinung neben Empathie auch Vertrauen notwendig. Vertrauen gegenüber Menschen, die sich rassistisch angegangen fühlen. Das machen diese Menschen nicht, um Aufmerksamkeit für sich zu erhaschen, sondern um auf eine Situation aufmerksam zu machen, die bei näherer Betrachtungsweise naheliegt. Diese Menschen haben ein Recht darauf, dass dieses Problem angegangen wird.

Attribute Menschengruppen generell zu verpassen kann auch Rassismus sein – jeder Mensch reagiert anders auf diese Verkehrssituation in Cotonou, Benin. Coolness, Gelassenheit etc. empfindet hier sicher jeder von uns anders.

Ein weiterer Punkt, den ich mir selbst in der Debatte anlasten muss, ist das N-Wort (wahlweise auch das Z-Wort in Bezug auf Sinti und Roma), das immer noch in der Kinderliteratur Verwendung findet. Selbst nie mit Rassismus konfrontiert habe ich mir über dieses nie wirklich Gedanken gemacht, bis ich von guten Freund*innen vor ein paar Jahren darauf hingewiesen wurde. Hasters reagiert auf das N-Wort ziemlich souverän, da sie sich in Menschen wie mich hineinversetzt, die sich damit bisher nicht auseinandergesetzt haben. „Es ist das eine, Rassismus zu reproduzieren, weil man ihn nicht erkennt. Es ist etwas anderes, Rassismus zu reproduzieren, weil man die Perspektiven anderer Menschen nicht anerkennt.“. Sobald man dies allerdings erkennt und sich dennoch nicht gegen die Streichung des N-Wortes einsetzt, handelt man rassistisch. Auch dieser Aspekt hat mir zu denken gegeben.

Wir Menschen neigen oft dazu, Sachen aufzuwiegen. Ich gehe gar auf „Whataboutism“ ein, sondern bleibe beim Rassismus. Man könnte schließlich der Meinung sein, als weißer Mensch in Afrika ebenfalls von Rassismus betroffen zu sein, wenn ich dort zum Beispiel mehr für den Bus bezahlen musste als die Einheimischen. Hasters erkennt hier eher die Privilegien, die ich als Weißer habe, der dort als reich und höhergestellt gilt. Sie erkennt an, dass diese Erfahrungen nicht unbedingt positiv sind – es wird mir als weißem Menschen aber tatsächlich nicht unterstellt, dass ich kriminell oder sonstwie bedrohlich sei. Das genannte Beispiel mit dem Bus kann ärgerlich sein, hat aber tatsächlich nichts mit Rassismus zu tun. Es ist eher die Folge des Rassismus, da durch die Ausbeutung der ehemaligen Kolonien durch die Weißen, die „Norm“ entstand, dass Weiße reich und Schwarze Menschen arm sind.

Ein Privileg von Weißen ist es Rassismus zu ignorieren. Hasters schreibt „Die Anerkennung meiner Perspektive ist kein Selbstverständnis, sie ist ein Kampf.“. Und dass Schweigen nichts bringt, wissen wir alle. Wenn rassistische Sätze fallen, dann sollten wir das auch äußern. Fangen wir damit im Bekanntenkreis an: in der Familie, auf der Arbeit, in der Kneipe und hoffentlich bald auch wieder im Stadion.

Es sei denn, es ist uns egal, wie wir Menschen miteinander umgehen. Dann hätte es aber auch nichts gebracht, diesen langen Text zu lesen. Einfach einmal sein eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen kostet kein Geld. Und zu versuchen, andere Menschen ausschließlich nach deren Denken und Handeln zu beurteilen auch nicht. Dieses Aufräumen im Kopf tut letzten Endes auch mir persönlich gut. In den letzten Jahrzehnten konnte ich mir auch ein Bild von Menschen aus der ehemaligen DDR machen, da ich glücklicherweise nach der Wende viele kennengelernt habe. Das pauschale Bild der DDR, das ich in meinem Kopf hatte, habe ich damit auch ersetzen können – durch einzelne Menschen, die ich nach ihrem Denken und Handeln beurteile.  

Quellen:

Rassismus – Grünen-Politikerin Touré: „Wir müssen Rassismus entlernen“ – Gesellschaft – SZ.de

Identitäten (7/7) – Warum weiße Menschen so gerne gleich sind – Deutschlandfunk

DZG2019 – Jenaer Erklärung – Deutsche Zoologische Gesellschaft e.V.

Sierra Leone 2017 letzter Teil

Die Gefahr, dass Fremde davon Wind bekommen, dass hier zwei Touris alleine ausharren und man diese vergewaltigen oder direkt abschlachten könnte, bevor man sich ihrer Barreserven bemächtigte, schätzten wir als nicht sehr hoch ein – auszuschließen war es aber auch nicht wirklich. Ich hatte irgendwie eher das ungute Gefühl, dass die Leute vielleicht bis in die Puppen feiern und uns schlicht vergessen würden. Ich war mir nicht im Klaren darüber, warum ich so misstrauisch war – aber vielleicht wird man das mit der Zeit, wenn man Jahr ein Jahr aus stetig schlimmere Nachrichten zur Kenntnis nimmt und mit der Zeit einfach nur noch den „Worst Case“ als plausibelste Möglichkeit annimmt.

Nachdem wir uns im Visitors Centers gegenseitig genug verrückt gemacht hatten, entschlossen wir uns trotzdem so zu tun, als wäre alles normal und wir legten uns schlafen, während wir in der tollsten Natur, die ätzende Zivilisation in Form von nervender Musik mitbekamen. Vor Jahren auf meiner Weltreise lernte ich auf der Zugfahrt von Malaysia nach Thailand einen sehr weit gereisten Niederländer kennen. Wir quatschten damals einen Großteil der Fahrt natürlich übers Reisen. Peter meinte damals, man bräuchte einfach immer einen Plan B. So überlegte ich mir in den folgenden Stunden meinen Plan B, falls wir die Nacht überleben sollten und uns am Morgen niemand Kaffee servieren würde. Essen hatten wir praktisch keines mehr. Es gab auch nichts wie Früchte oder Gemüse, was man hätte verzehren können. Wasser gab es ungefiltert aus dem Fluss, das für die Klos und die Dusche genutzt wurde. Vielleicht gab es an der Feuerstelle ein Feuerzeug, so dass wir Wasser hätten abkochen können. Strom gab es dank der Solarzellen, sodass das iPhone mit dem Navi drauf, das über Satellit funktioniert, einwandfrei zu gebrauchen gewesen wäre. Wir hätten es somit höchstwahrscheinlich zur anderen Seite der Insel durch den Dschungel geschafft. Dort war zwar kein Dorf, aber der Fluss war so tief nicht, so dass wir womöglich hätten durch stiefeln können. Zwei Dinge, die ich in der Nacht noch nicht wusste, hätten meinen Plan B im Nachhinein als ziemlich dämlich entlarvt: Es gab Krokodile im Fluss und es gab einen Fußweg vom Visitors Center nicht nur zur ca. 200 m entfernten Anlegestelle der Boote sondern auch einen Fußweg nach Norden, der zu einer Bucht führt, die sich direkt gegenüber der Anlegestelle des anderen Dorfes befand. So hätten wir problemlos auf uns aufmerksam machen können – weil diese auch gleichzeitig als „Waschmaschine“ und „Bad“ des Dorfes fungierte und während des Tages sich eigentlich immer jemand dort aufhielt, um im Fluss Wäsche zu waschen oder sich zu reinigen.

Ein Agame, unser Haustier im Zelt in Tiwai
Ein Agame, unser Haustier im Zelt in Tiwai

Irgendwann fiel ich in einen Halbschlaf und bemerkte später, dass die Party wohl zu Ende war, da keine Musik mehr zu meinen Ohren durchdrang. Oropax hatte ich lieber nicht in die Ohren gesteckt – man möchte ja seine „Angreifer“ dann doch noch möglichst früh bemerken – eine dämliche Vorstellung zwar, aber in dieser Situation war mit Rationalität in etwa so viel anzufangen, wie bei einem 05-Spiel im Gästeblock. Als ich plötzlich Stimmen hörte, war mir relativ sicher, dass es die Dorfbewohner waren und nicht irgendwelche Räuber und Vergewaltiger. In dieser Nacht näherte sich tatsächlich niemand mehr unserem Zelt und ich schlief irgendwann erschöpft ein.

Am nächsten Tag stand pünktlich um sieben nicht nur der Kaffee auf dem Tisch, sondern auch unser Guide zum Waldspaziergang nebem dem Tisch. Er stank bestialisch nach Alkohol und vielleicht war das der Grund, warum wir an diesem Morgen weniger Affen entdeckten als am Morgen zuvor. Trotzdem genossen wir unser Leben, freuten uns, dass dieses genauso wie diese Reise weiterging und konnten es dann doch recht gut verkraften, nicht so viele Primaten vor die Linse zu bekommen. Am späten Vormittag fragten wir nach, ob und wann, wie irgendwie tags zuvor vereinbart, das Dorf zu besuchen sei. Plötzlich war ein Boot und der Bootsjunge da und auch der Dorfspaziergang funktionierte schließlich einwandfrei. Die Leute bauten allerlei Obst und Gemüse an und fischten im Fluss, um ihren Hunger zu stillen. Wie die fünf anderen Tiwai umgebenden Dörfer profitierte auch Kambama von unserem Aufenthalt. Tiwai Island ist eine Kooperative, zu der sich die Dörfer rund um die Insel zusammenschlossen, um Ökotourismus aufzubauen. Von den Einnahmen wurden Infrastrukturprojekte gefördert und die Menschen lernten, dass es sich finanziell am Ende mehr lohnt, die Affen zu schützen, statt zu fangen, um sie zu essen oder zu verkaufen.

Ein roter Colobus-Affe beobachtet uns beim Waldspaziergang
Ein roter Colobus-Affe beobachtet uns beim Waldspaziergang

Nachdem es spätnachmittags nochmals auf Bootsfahrt in den Sonnenuntergang ging, kamen tatsächlich, wie drei Tage vorher angekündigt, unsere beiden Helfer vom ersten Tag aus Mapuma, dem anderen Dorf. Und mit dem letzten Licht des Tages bekamen wir dann sogar noch Zuwachs an Touristen. Eine Italienerin, die 8 Jahre in Sierra Leone Entwicklungshilfe leistete, schaute mir ihrem Sierra-leonischen Freund vorbei. Sie war erst mal überrascht, überhaupt Weiße zu treffen. Sie fragte uns, was wir in Sierra Leone machten. Wir entgegneten ihr „Urlaub“. Sie meinte, ja klar, aber was uns letztlich tatsächlich hierher trieb, sprich für welche Firma oder welches Projekt wir arbeiten würden. Als wir entgegneten, wir seien wirklich stinknormale Touris, konnte sie es kaum glauben. Die dritte Nacht auf Tiwai Island schlief ich beruhigt ein, schließlich waren wir nicht alleine. Nachts wachte ich plötzlich doch panisch auf, da mein Kopf juckte. Ich dachte an Flöhe oder an die beiden Agamen, Eidechsen-ähnliche Reptilien, die im Zelt mit uns lebten, war aber zu müde, um den wahren Grund herauszufinden. Am nächsten Morgen merkte ich, dass Ameisen ihre Straße über meinen Kopf umgeleitet hatten – daher also dieses Kratzen und Jucken auf der Kopfhaut.

Einfach mal so nach Sierra Leone zu fahren – das macht wohl wirklich fast niemand. Und so ist es wenig verwunderlich, dass wir in Tiwai dann so eine emotionale Achterbahnfahrt mitgemacht haben. Sicherlich hat den Dorfbewohnern niemand wirklich mal erklärt, was Touristen neben Essen und Trinken wirklich wollen, sprich, eigentlich immer Bescheid wissen, wann es was gibt, also, dass es dann und dann Mittag- oder Abendessen gibt, um soundsoviel Uhr die Dorfbesichtigung stattfindet etc. Und dass Touris nicht alleine gelassen werden möchten – auch nicht 6 Stunden für die Hälfte der Nacht, weil Dorffest ist. Das ganze kann man den Leuten gar nicht vorwerfen, und vielleicht stellten wir uns auch ein wenig memmenhaft an, aber wir waren trotz der herrlichen Natur wirklich froh, am nächsten Morgen zu Fuß wieder 5 km durch den Dschungel zur anderen Inselseite zu wandern und der Insel den Rücken zu kehren. Mit den Einbäumen ging es ruck zuck über den Fluss und wir hofften darauf, dass Saidhu schon am Ufer mit seinem Nissan stand. Es war erst viertel vor neun und wir hatten neun Uhr ausgemacht – von daher hielt sich unsere Enttäuschung in Grenzen als kein Saidhu vom Ufer her winkte und die Zivilisation in Form des Nissan direkt am Ufer parkte. Wir marschierten mit den Jungs ins paar Hundert Meter entfernte Dorf und hier fing schon wieder das Kopfkino an.

Der belebte Waschsteg am anderen Flussufer
Der belebte Waschsteg am anderen Flussufer

Die Leute von Tiwai Island wollten Saidhu eigentlich noch anrufen, uns im anderen Dorf abzuholen, da die Strecke wesentlich kürzer sei. Aber angeblich hatte ihn niemand erreicht. Wir hatten allerdings die Befürchtung, es hätte ihn doch jemand erreicht und nun würde er vergeblich in Kambama auf uns warten. In Mapuma, unserem Dorf, wurden wir inzwischen von einer großen Schar an Kindern neugierig begutachtet. Der Dorfälteste kam, stellte sich vor und wir erhielten zur Begrüßung zwei Kokosnüsse in die Hand gedrückt. Die Bewohner bemerkten die aufkommende Verzweiflung in unseren Gesichtern, wo Saidhu wohl blieb, und man fragte nach seiner Telefonnummer. Ich gab sie den freundlichen Helfern, meinte aber, man hätte hier doch eh keinen Empfang. Aber es gab genau an einer Stelle tatsächlich ein paar Streifen auf dem Handydisplay. Diese „Telefonzelle“ war tatsächlich mit Stöcken markiert, nur Saidhu nahm nicht ab – was mich wiederum wenig verwunderte, da er bestenfalls unterwegs war und keinen Empfang hatte. Um zwanzig nach neun probierten wir die Nummer der Autovermietung in Freetown, die angeblich 24 Stunden am Tag erreichbar war – ich hörte das Freizeichen, aber auch hier nahm niemand ab – es war schließlich Sonntag Morgen, kurz vor halb zehn in Sierra Leone.

Plan B! Sollten wir ja immer griffbereit haben. Und somit fragte ich, wie man denn ins 47 km gelegene Kenema käme, dem Beginn der Teerstraße. „Mit dem Motorradtaxi“ war die Antwort. An diese habe ich noch sehr schlechte Erinnerungen, da ich 1999 mit diesem einen Unfall in Benin hatte. Der Fahrer freute sich damals so dermaßen, einen Touri zu einem wohl dermaßen guten Preis die paar Kilometer zu fahren, dass er weder nach links noch noch rechts blickte, die Kreuzung einfach überquerte und uns ein von rechts kommendes Auto streifte, so dass wir fast drauf gegangen wären. Mein Wadenbeinbruch wurde erst rund drei Wochen später in Deutschland diagnostiziert – nachdem ich auf der Meenzer Fassenacht und dem dazugehörigen „Finther Zug der Lebensfreude“ ein Krachen im Bein vernahm. Der Arzt, den ich dann am Aschermittwoch konsultierte, meinte, der Knochen sei in der Zwischenzeit wieder zusammengewachsen und beim Fastnacht feiern nochmals gebrochen. Meine Begeisterung für Motorradtaxis hielt sich also an diesem Sonntag Morgen in Sierre Leone deutlich in Grenzen.

Saidhu, unser Fahrer, ist in Mapuma angekommen
Saidhu, unser Fahrer, ist in Mapuma angekommen

Während ich gerade in die Preisverhandlungen einsteigen wollte, hörte ich ein Motorengeräusch und ein paar Sekunden später bog der weiße Nissan mit Saidhu hinterm Steuer um die Ecke. Die pure Erleichterung fiel mir wohl wirklich aus dem Gesicht heraus. Das beste an der Situation war die Tatsache, dass wir uns für die Gastfreundschaft der Bewohner Mapumas revanchieren konnten, indem wir einen unserer Begleiter von der Insel bis kurz vor Freetown und eine Frau zum Markt nach Kenema mit ihren Gemüsekörben mitnehmen konnten. So hatten die Dorfbewohner tatsächlich noch etwas davon, dass Touris mit dröhnenden Riesenautos in ihr Dorf kommen. Für das Telefonieren wollte ich natürlich auch den Telefonisten entschädigen, dieser fragte nur verständnislos zurück, wieso das denn? Hm, weil ich in einer anderen Welt gelernt habe, dass man helfenden Leuten ihre Auslagen ersetzt, wenn man dazu finanziell in der Lage ist. Ich fragte geistesgegenwärtig, ob man vielleicht das Geld der Dorfgemeinschaft spenden könnte, was dann tatsächlich wohlwollend entgegen genommen wurde. Soviel Altruismus von Menschen, die selbst nicht viel haben und dann noch Touris aus der Klemme helfen möchten – ich war überwältigt.

Die Fahrt zurück auf die Freetown-Halbinsel verlief dann wieder vollkommen ereignislos, was in Sierra Leone auch einfach mal schön sein kann. Bemerkenswert fand ich allerdings die riesigen Plakate am Straßenrand, die auf mich wirkten, als würde das ganze Land gerade versuchen, sämtliche Missstände und Probleme anzugehen: Während bereits vor den Einreiseschaltern am Flughafen auf den Kampf gegen Korruption hingewiesen wurde, las ich im Abstand weniger Kilometer, dass man Ebola-Opfer nicht ausgrenzen sollte – während die Schilder, Ebola-Fälle umgehend per SMS zu melden, langsam verrotteten. Es wurde für HIV-Tests geworben und darauf hingewiesen, dass eine HIV-freie Geburt von Kindern möglich sei – eines der ganz großen Probleme Afrikas. Schließlich sind in manchen Ländern ein Viertel der Bevölkerung HIV positiv. Glücklicherweise gehen die Neuansteckungen zurück und solche Plakate lassen wenigstens ein Stück weit positiv in die Zukunft blicken. Auch der Gewalt gegen Frau wird plakativ ein großes „NO“ entgegen gestellt. Was mich ebenfalls beeindruckt hat, waren die bunten Plakate des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), die mir mit den „Substainable Development Goals“ bis 2030 ins Auge gesprungen sind: Neben Umweltaspekten, geht es hier um die Gleichstellung von Frau und Mann und eine Reduzierung von Ungleichheiten. Es wäre zu wünschen, wenn sich Teile dieser Ziele tatsächlich in den nächsten Jahren realisieren lassen würden – nicht nur in Sierra Leone, sondern auch bei uns zu Hause.

Angenehme Übernachtung in Tacugama
Angenehme Übernachtung in Tacugama

Statt zurück in die Hauptstadt zu düsen, ging es ins Schimpansen-Reservat Tacugama, um, wie anfangs berichtet, „Somebody“, unser Schimpansen-Kind zu besuchen. Tacugama wurde bereits 1995 gegründet, um die Schimpansen Sierra Leones vor der Ausrottung zu schützen. Das Gesetz in Sierra Leone verbietet es, Schimpansen zu fangen, um diese entweder als Haustier zu halten, diese als „Bushmeat“ zu essen oder zu verkaufen. Damit dieses Gesetz auch Wirkung entfaltet, erhalten die konfiszierten Schimpansen in Tacugama ein neues Zuhause. Mittelfristig sollen diese wieder auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden, was bisher allerdings noch nicht gelang. Durch Schulungen versucht man die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es einen Mehrwert bringt, Schimpansen zu schützen, damit Touris wie wir kommen und Geld im Land lassen – mehr Geld, als man mit dem Verkauf von Schimpansen machen kann. Nach der verheerenden Schlammlawine, die die Umgebung Tacugamas im August letzten Jahres heimsuchte und mehr als 400 Leute unter sich begrub, kümmerte sich Tacugama zunächst um die Waisenkinder und beginnt nun mit der Aufforstung des Gebiets. Schließlich handelte es sich nicht ausschließlich um eine Naturkatastrophe. Vielmehr war dieses Unglück durch die illegale Rodung von Wald auch menschengemacht.

Nach den Nächten von Tiwai im Zelt genossen wir es, in einer kleinen Rundhütte in den Bergen der Freetown-Halbinsel zu chillen und nur ab und zu die Geräusche der Schimpansen zu vernehmen. Nachts „schimpfte“ es dann plötzlich aus dem Geäst. Ein Galago, auch als Buschbaby bekannter, Feuchtnasenaffe fand es wohl wenig erbauend, dass wir in seinem Revier den Geräuschen der tropischen Nacht lauschten. Mit den Stirnlampen erkannten wir das nachtaktive Tier an seinen riesigen Ohren und großen runden Augen. Lustigerweise konnten wir in Tacugama vor den Toren der Hauptstadt Freetown nun endlich die Nachtruhe genießen, die wir in Tiwai teilweise vermisst hatten.

Zu Besuch bei "Somebody" unserem Adoptiv-Schimpansen-Kind
Zu Besuch bei „Somebody“ unserem Adoptiv-Schimpansen-Kind

Zurück in die Hauptstadt Freetown ging es mit Mamadu und seinem etwas betagten Nissan Sunny, den uns die Leute Tacugamas organisierten. Mamadu schmunzelte, als er von unseren Erlebnissen in Tiwai hörte. Er wäre mit seiner Klappermühle schon mehrmals in Tiwai gewesen. Was sich für mich zunächst ein bisschen nach Geprahle anhörte, interessierte mich dann doch zunehmend, denn schließlich war unsere Reise durch Sierra Leone noch nicht zu Ende und gute Fahrer, die sich auskennen und mit ihrem Wagen, der halt nicht der Monster 4WD ist, auch keine Mondpreise verlangen, findet man in Sierra Leone auch nicht alle Tage. Und schließlich ging es ja erstmal wieder um meine Lieblingsbeschäftigung, dem Geld holen. Und da machte sich Mamadu gleich mal sehr beliebt, da er Tanken musste und die Tanke einen Geldautomaten besaß. Karte rein und lassen wir die Lotterie beginnen! Es kamen tatsächlich 30 Scheine raus, die für ca. eineinhalb Mal auswärts Essen reichen sollten…

Zum nächsten kleinen Abenteuer, zum Glamping auf den Banana Islands holte uns Mamadu wieder pünktlich ab. Auf der Fahrt zum Anleger in Kent hatte ich schon wieder Bammel, dass erneut etwas unvorhergesehenes passiert, da Mamadu plötzlich anhielt, ausstieg und in einem Haus außerhalb von Freetown verschwand. Mit einer Kanne Wasser kam er wieder, öffnete die Motorhaube und goss Wasser in den Kühlwasserbehälter. Später entschuldigte er sich, dass er vergessen hatte, die morgendliche Ration an Wasser nachzufüllen, ach so – kann man ja mal vergessen, in einem Land ohne TÜV und Abgassonderuntersuchung. Problemlos kamen wir am Anleger an und fuhren wenig später mit dem Boot auf die Banana Islands. Dort wurden wir von Makelé empfangen. Die junge Sierra Leonerin managt das „Bafa Resort“ wenn Sam der libanesische Eigentümer in Freetown verweilt, was er die meiste Zeit tat. Makelé hat ein Stipendium an einer Fernuniversität erhalten. Trotzdem muss sie 100 US$ im Monat selbst aufbringen – was nur 20% der gesamten monatlichen Gebühren beträgt. Wenn man dies mit den Studiengebühren in Deutschland vergleicht, sind die Preise hier in Afrika für die Ausblildung fast astronomisch.

Glamping auf den Banana Islands
Glamping auf den Banana Islands

Als Managerin ist sie für den Laden komplett verantwortlich und Chefin über ein Dutzend Insulaner, die hier im Resort arbeiten. Vor dem Ebola-Ausbruch gab es hier sogar eine Tourismus-Schule auf der Insel und das Vermittelte wurde an den vielen Kleinigkeiten sichtbar, wie Stoff-Servieten, Tischdecken und -unterlagen, Solarlampen für die Gäste, die jeden Morgen zum Aufladen abgeholt wurden, einer French Coffee Press statt Nescafé u.v.m. Für Makelé war die praktische Anwendung dessen, was sie im Fernstudium lernte, optimal, konnte sie doch an der Rezeption stundenweise ihrem Studium nachgehen, wenn wir Touris „ruhig“ gestellt waren mit Essen, Hängematte, Kayak etc. Dank des schnellen, mobilen Internets auf einer Insel, auf der es keine Wege, keine Karren, geschweige denn Autos gab, keinen Laden oder sonst irgendwelche Infrastruktur, war sie in der Lage ihren Start ins Berufsleben selbst in die Hand zu nehmen. In manchen Regionen Deutschlands, wo es bis heute keinen Handyempfang gibt, wäre eine solche Geschichte kaum möglich, denn wie war das nochmal mit dem schnellen Internet bei uns auf dem Land?

Das Glamping war wirklich herrlich. In großen Rundzelten, die ich noch aus meiner Kindheit von Ferienlagern im Hunsrück kannte, übernachteten wir dekadenderweise tatsächlich zu zweit, wo wir als Kinder damals zu fünft plus Gruppenleiter pennten. Das war tatsächlich schon glamourös. Auch hier überraschte Sierra Leone uns mal wieder, denn wir konnten wirklich mal richtig Urlaub machen und hatten keine Befürchtung, dass es nichts zu Essen gab oder wir alleine zurückgelassen werden. Zu schnell sind die Tage auf diesem wunderbaren Eiland zu Ende gegangen. Auf der Rückfahrt zum Festland entdeckten wir tatsächlich unseren Fahrer vom Boot aus. Und Mamadu winkte schon vom Anleger entgegen. Auf der Rückfahrt gerieten wir in einen Stau. Im März finden in Sierra Leone Wahlen statt und tatsächlich haben hier die Menschen eine Wahl. Es gibt mehrere Kandidaten, man findet Wahlplakate, die nicht überkritzelt oder zerstört werden und natürlich Kundgebungen, die dann doch ein wenig anders als bei uns ablaufen. Es erinnerte mich eher an einen kleinen Fastnachtsumzug, was sich da vor Mamadus Wagen abspielte. Dieses Mal gab es meine klischeehaft erwartete Trommel-Musik, die aus überdimensionierten Boxen auf einem Pick-Up stammten. Dahinter tanzte das Wahlvolk. Man stelle sich das mal bei uns vor. Die SPD oder die CDU fährt über die Ludwigsstraße in Mainz und alle Wähler tanzen hinterher zu Losungen wie „Bürgerversicherung“ oder „Maut für alle“ – Tanz auf der Lu mal anders!

Rückfahrt von den Banana Islands ans Festland
Rückfahrt von den Banana Islands ans Festland

Das Schöne, wenn man mit Leuten wie Saidhu, Makelé oder Mamadu längere Zeit verbringt, ist die Tatsache, dass aufgrund der Amtssprache Englisch wir mit allen dreien ins Gespräch kamen. Während mir in der Vergangenheit Einheimische oft davon erzählten, dass sie langfristig nach Europa wollten, war das in Sierra Leone nie ein Thema. Auf meine naive Frage hin, weil er mit Ausländern ja bereits einige Touren auch nach Tiwai unternommen hatte, ob er schon mal in Liberia oder Guinea war, erzählte mir Mamadu, dass er sogar in Gambia und Senegal war – zum Arbeiten. Im Bürgerkrieg verlor er seine Eltern und war der Älteste von vier Geschwistern. Also war es an ihm, die Familie durchzubringen. Die größte Migration in Afrika findet nicht nach Marokko oder Libyen zur Flucht über das Mittelmeer statt, sondern innerhalb von Afrika. Anscheinend gibt es da einen Welleneffekt. Leute aus Sierra Leone zieht es in etwas wohlhabendere Länder wie Senegal und Senegalesen wollen nach Europa – und bauen hier die Straßen auf der Freetown-Halbinsel (während die Chinesen die großen Überlandstraßen herrichten). Auf meine Frage, warum er wieder nach Sierra Leone zurückkehrte, entgegnete Mamadu entwaffnend, weil es zu Hause doch am Schönsten sei und er seine Geschwister jeden Tag sehen kann. Und es war schön, relativ viel Geld für die Fahrten mit Mamadu auszugeben, mit der Hoffnung, dass möglichst viel davon bei ihm bleibt, denn das Auto gehört seinem Chef. Ein eigenes Auto kann sich Mamadu nicht leisten.

Ein letztes Mal fuhren wir mit ihm zu den wirklich wunderschönen Stränden, die die Hauptstadt Freetown umgeben. Am Lakka Beach konnte man erahnen, dass hier mal der Werbespruch „Die Karibik Westafrikas“ stimmte – vor dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die ehemaligen großen Hotelkomplexe sind überwuchert von Pflanzen. Aber es gibt bereits wieder kleine Gästehäuser, in denen auch Weiße tatsächlich wohnten. Hier lässt sich tatsächlich das Backpacker-Leben leben, das es auch mal vor 30 oder 40 Jahren in Thailand, Goa oder Bali gab. Diese Regionen sind ja heute mit Bettenburgen durchzogen, die Familie Müller-Meier-Schmidt bucht ihren All-inclusive-Urlaub dort, bei dem die Einheimischen praktisch kaum einen Cent erhalten und von einem „Lonely Planet“ kann da wahrlich nicht mehr die Rede sein. Es bleibt zu hoffen, dass Sierra Leone seinen Weg der stabilen Demokratie weitergeht, von Katastrophen verschont bleibt, damit das Auswärtige Amt weiterhin keinen Reisehinweis geben muss, außer vielleicht dem, dass sich eine Reise hierhin wirklich lohnt, möchte man mal abseits der austrampelten Touristenpfade unterwegs sein und mit seinem Geld, direkt Leuten vor Ort helfen, so dass man mit dafür sorgt, dass diese ihr Auskommen haben, vom Tourismus leben können und gerne in ihrer Heimat ihre Zukunft gestalten können.

Sierra Leone 2017

Vorfreude ist sicherlich die schönste Freude und so durfte ich mich auf die Reise nach Westafrika in das kleine Land Sierra Leone seit dem Sommer 2017 freuen. Damals hatten wir „Somebody“ ein Schimpansenweibchen im Tacugama Chimpanzee Wildlife Sanctuary „adoptiert“ und fanden die Möglichkeit, unser „Kind“ nicht nur finanziell zu unterstützen sondern auch persönlich zu besuchen extrem spannend.


Schließlich stellt sich die Frage, was wir mit Sierra Leone verbinden: Ebola ist sicher jedem ein Begriff und an den Bürgerkrieg um Blutdiamanten, der mit Kindersoldaten ausgefochten wurde, kann sich vielleicht die eine oder der andere auch noch erinnern. Aber wie sieht es in diesem Land mittlerweile aus? Von Flüchtlingen aus Sierra Leone hört man in Deutschland gar nichts und im Weltspiegel habe ich seit dem Ende von Ebola auch keinen Bericht mehr gesehen. Das Auswärtige Amt stellt nüchtern fest „Für dieses Land besteht derzeit kein landesspezifischer Sicherheitshinweis.“ – daher wird wohl in den Medien auch nicht darüber berichtet. Schließlich existieren die meisten der 195 Länder, die Mitglied der Vereinten Nationen sind, medial schlicht nicht, wenn sich dort keine Naturkatastrophe ereignet, sich niemand in die Luft sprengt, dort eine Seuche ausbricht, die auch uns in der westlichen Welt gefährlich werden könnte, oder sonst etwas Schlimmes passiert.

Am Lumley Beach von Freetown
Am Lumley Beach von Freetown

Dass mal explizit über etwas Gutes berichtet wird oder über Länder, an denen wir uns in Deutschland ein Beispiel nehmen könnten, ist leider die Ausnahme. Es dreht sich die Berichterstattung mehr oder weniger immer wieder um dieselben ca. 20 bis 30 Länder: Die USA geht immer, egal wer da an der Macht ist, Mexiko als Beispiel für den Drogenkrieg nachdem diese Geschichte in Kolumbien nicht mehr so funktioniert, Kuba für Kommunismus-Romantiker, Brasilien als Beispiel für Korruptionssumpf und Südafrika als Beispiel, wie zu große Erwartungen zum Scheitern verurteilt sind. Der Nahe Osten als Drama geht immer, da dort seit Jahrzehnten die Hütte brennt, und Korea geht neuerdings wieder gut – dem kindischen Wer-hat-den-größeren-Knopf-Vergleich sei Dank. Und die Volksrepublik China als zukünftige beherrschende Weltmacht rückt genauso wie das Russland Putins immer mal wieder in den Fokus, aber die restlichen 165 Staaten unserer Welt? Die fallen irgendwie durchs Raster der Berichterstattung.


Also ab ins Impfzentrum, die notwendigen Spritzen setzen lassen, das Visum-Formular ausfüllen und den Pass nach Berlin zur Botschaft Sierra Leones schicken. Schließlich bin ich der Meinung, dass es noch genügend andere Länder auf diesem Planeten gibt, über die ich etwas erfahren möchte. Wenn man darüber nichts erfährt, heißt das ja nicht, dass es dort nichts zu sehen gibt. Als der Pass nach ein paar Tagen mit der Visum-Nummer 47 bzw. 48 ohne Zusatz der Jahreszahl zurückkam, schwante mir schon, dass es wohl nicht so viele Menschen nach Sierra Leone zieht. Dieser Umstand steigerte in mir weiter die Neugierde auf dieses Land. Schließlich war ich in dieser Region 1999 das letzte Mal unterwegs gewesen und hatte damals schon gehofft, es mal irgendwann wieder nach Westafrika zu schaffen.

Der Vorort Aberdeen bei Freetown
Der Vorort Aberdeen bei Freetown

Der Landeanflug im Licht der untergehenden Sonne war eine schöne Einstimmung auf Afrika. Minutenlang schwebten wir über unberührten Mangrovensümpfen der Landebahn entgegen. Während an anderen Flughäfen die Umgebung hell beleuchtet ist, war es hier stockfinster und ein weiteres Flugzeug vor dem kleinen Terminal des Lungi International Airport war gar nicht auszumachen. Die Treppe wurde herangerollt – Fluggastbrücken wären hier die pure Dekadenz – und raus ging es in die afrikanische Schwüle.


Hatte ich mich im Oktober 2017 in Armenien noch darüber echauffiert, dass Geldautomaten grundsätzlich immer nur die höchsten Scheine ausspucken, galt dies zwar auch hier für die Geldwechsler, aber der höchste Geldschein (10.000 Leones) entspricht leider nur 1,25 € und somit erhielt ich für meine 100 € mehrere Geldbündel mit 10.000er und 5.000er Leones-Noten, schön verpackt in einem Briefumschlag, der sich aber aufgrund des Volumens der Geldscheine gar nicht schließen lassen konnte. Wie in einem Mafiafilm stopfte ich die Kohle in die Tasche und weiter ging es zur Gepäckausgabe. Die Passagiere wühlten auf dem Gepäckband alle Koffer und Taschen umher und so flog mein Rucksack vom Band – leider auf die Innenseite, so dass ich in einem Spagat bei laufendem Band versuchen musste, mir das gute Stück zu angeln. Unter großem Gelächter der umstehenden Leute gelang dies mir schließlich, und es ging hinaus aus dem kleinen Flughafen.

Der Anleger am Lungi-Airport
Der Anleger am Lungi-Airport

Wie an vielen Flughäfen der Welt standen dort Abholer und Geschäftemacher herum, aber wir wurden nicht belagert und mit „Taxi, Taxi“-Geschrei konfrontiert. Nein, es war tatsächlich möglich, zu fragen, wo Lamin sei, der uns abholen sollte. Dieser sei gerade unterwegs, wir sollten uns einfach dort hinten hinstellen und warten. Ein paar Sekunden später kam Lamin tatsächlich und organisierte unsere Weiterfahrt. Der Lungi Airport steht vielleicht ein wenig stellvertretend für das ganze Land Sierra Leone: Es ist nicht so einfach hier herum zu kommen, doch es funktioniert am Ende alles und es macht alles einen guten Eindruck auf uns. Konkret hieß dies hier, Lamin besorgte uns die Tickets für den Sea Coach Express – ein Wassertaxi, das uns über die riesige Tagrin Bucht direkt nach Freetown bringen sollte. Das Gepäck wurde in Jeeps geladen und auf einem separaten Boot in die Stadt gebracht. Wir durften uns jetzt zwischen „Orange“ und „Africell“ entscheiden, denn Roaming mit T-Online, Vodafone und Co. gibt es nicht. Gleichzeitig läuft in Afrika vieles über Telefon, so dass ein funktionsfähiges Handy unabdingbar ist.


Dann ging es schon ab in den Shuttle-Bus, der uns zum Anleger brachte. Im Wassertaxi lief dann zu meinem Erstaunen im Fernsehen Championsleague. Später merkte ich, dass eigentlich immer Fußball im Fernsehen gezeigt wurde, sogar das Pokalspiel von Mainz 05 gegen Stuttgart und das in Sierra Leone. Die Nullfünfer (hier Zerofivers) kannten alle Fußballinteressierten selbstverständlich, obwohl die Präferenz immer in Richtung Premier League ging und wenn dann Deutschland dann natürlich immer der FC Bayern, nun ja. Leider ist der Spielbetrieb im eigenen Land seit 2014 ausgesetzt, wegen der verheerenden Ebola-Epidemie. Rein theoretisch wäre es längst wieder möglich zu spielen, meinte später einer unserer Fahrer, aber die Verbandspräsidentin und die sie umgebende Männerriege haben es bisher nicht hinbekommen. So bleibt den Fußballbegeisterten in Sierra Leone nur der Kick am Strand, der sonntags insbesondere an den Stränden von Freetown mit Begeisterung zelebriert wird.

Das Wassertaxi zwischen Lungi Airport und Aberdeen Bridge
Das Wassertaxi zwischen Lungi Airport und Aberdeen Bridge

Am Fähranleger stand schon unser Gepäck bereit und weiter ging es mit einem Taxi-Jeep ins Hotel. Für die 2,5 km lange Fahrt wurden umgerechnet 9 € fällig – hätten wir das im Voraus online gebucht, wären uns sogar 20 US$ oder über das Hotel 37 US$ berechnet worden. So bekamen wir schon eine Vorahnung, dass erstens diese Reise nicht gerade günstig werden würde und es einfach meist totaler Quatsch ist, jede Dienstleistung vorab zu buchen. Wie in jedem Reiseführer über die Tropen empfohlen, hielten wir uns tatsächlich mal dran, am nächsten Tag nichts großes zu machen, außer meiner „Lieblingsbeschäftigung“ für die nächsten Wochen nachzugehen: Dem Geld besorgen! Wir waren mit recht viel Bargeld ausgestattet, weil wir das Liquiditätsproblem bereits bei der Reisevorbereitung mitbekamen, aber dass es tatsächlich einem Glücksspiel glich, im Geldautomaten den Jackpot zu knacken und mal 30 oder 40 Scheine zu erhalten (was dann ca. 35 bis 45 € entsprach), das überraschte mich dann doch. Im Umfeld des Hotels gab es insgesamt 3 Geldautomaten und bei insgesamt ca. 20 Versuchen, gelang es uns tatsächlich zweimal Geld abzuheben! Mit der Kreditkarte zu bezahlen war außerhalb von Freetown auch nicht möglich, so dass dieser Trip auch buchhalterisch echt spannend werden würde.


Saidhu unser Fahrer des riesigen Nissan Patrol, wartete am nächsten Tag schon eine Stunde vor der mit seinem Boss vereinbarten Abfahrtszeit vor dem Hotel auf uns. Dafür hielt es sein Chef für nicht notwendig, Saidhu zu erzählen, dass wir die nächsten vier Tage „upcountry“ vorhatten zu fahren, und nicht abends wieder in Freetown zurück sein wollten. Unser Ziel, das Naturreservat Tiwai Island, kannte Saidhu auch nur vom Hörensagen. Mein Optimismus, leicht und locker die 350 km innerhalb von 4 bis 5 Stunden zurückzulegen verflüchtigte sich dementsprechend ganz schnell. Natürlich war es vollkommen ok, dass wir als Erstes zu Saidhu nach Hause fahren, damit dieser sich ein paar Klamotten holen konnte, bevor es auf die große Reise ging. Anscheinend wollte er auch noch ein paar Worte mit seinem Chef wechseln, denn als nächstes fuhren wir zu Cerra Automotive – unserem „Vermieter“. Mietwagen im klassischen Sinne gibt es in Sierra Leone noch nicht. Es werden ausschließlich große Geländewagen mit Fahrer feil geboten. Angeblich würden die Einheimischen so chaotisch fahren, dass es Ausländern nicht zugemutet werden kann, selbst zu fahren. Darüber kann man geteilter Meinung sein, denn hier wurde nicht anders gefahren als auf Mauritius, Indonesien oder in Argentinien – Ländern, in denen ich selbst schon hinterm Steuer saß. Aber natürlich generiert diese Vorgabe Jobs und mit Saidhu unterwegs zu sein, war sehr angenehm. Zwar war irgendwie nicht wirklich abgeklärt, wer für die Übernachtung des Fahrers und seine Verpflegung aufkommen sollte, da es zunächst hieß, wir sollten das übernehmen, später hieß es dann, die Mietwagenfirma übernimmt das. Diese Ungewissheit zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Reise in Sierra Leone – man wusste nicht immer über alles Bescheid. Wir gewöhnten uns notgedrungen an diese ständig neuen Situationen, in denen wir nicht wussten, wie es jetzt weitergeht. Daher sei einem Reisenden, mit Hang zum Kontrollwahn, eine Reise nach Sierra Leone vielleicht nicht unbedingt zu empfehlen.

Der Start der unbefestigten Straße nach Mapuma
Der Start der unbefestigten Straße nach Mapuma

Schließlich ging es dann endlich raus aus Freetown – auf gut ausgebauter Straße! Schon im Flugzeug sind mir die vielen asiatisch aussehenden Passagiere aufgefallen. Und Saidhu erklärte auf meine Frage, wer diese gute Straße gebaut hat, dass die Chinesen das ganze Land mit guten Straßen überziehen. Später bekamen wir diese Baumaßnahmen dann hautnah mit: In hellblauer Arbeitskleidung und einem überdimensionierten Sonnenhut gaben die Chinesen auf der Baustelle die Anweisungen, die von den Sierra-leonischen Arbeitern umsetzt wurden. Später wurden wir wieder überrascht: die Straßen konnten nicht umsonst genutzt werden. Die fällige Straßenbenutzungsgebühr wurde an drei Mautstationen im Abstand von 20 km eingezogen – mit modernster Technik: Kameras scannten das Nummernschild und wir erhielten ein Quittung – wie überall in Sierra Leone! Und auf dieser war sogar die Mehrwertsteuer ausgewiesen! Schon vor der Landung hatte mich Sierra Leone überrascht. Diese dämlichen Einreisekarten mussten wir nicht ausfüllen. Und am Einreiseschalter wurde ein Bild von uns gemacht, Fingerabdrücke genommen und die Fragen, die wir sonst auf den Einreisekarten zu beantworten hatten, wurden direkt in den Computer eingetippt. Ich bin zwar kein Freund von Datensammlungen aber was die Technik angeht, können sich da ein paar Länder eine Scheibe von Sierra Leone abschneiden.


Die 250 km nach Bo, in die zweitgrößte Stadt des Landes, verlief komplett ereignislos. Allerdings war es herrlich, durch Palmenhaine und Grasland zu cruisen, kaum menschliche Behausungen zu passieren und auch auf wenig Verkehr zu stoßen. Das erinnerte mich alles ein wenig an die Reise von Buenos Aires nach Iguazu durch den Norden Argentiniens vor ein paar Jahren. In Asien ist es leider kaum noch möglich, durch menschenleere Gebiete ohne Dauersmog zu reisen. In Bo angekommen, ging ich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung nach, dem Geld Besorgen: Dieses mal beim Libanesen im Tante Emma Laden! Die Libanesen sind in Sierra Leone und weiten Teilen Westafrikas für den Handel zuständig. Und dazu gehört auch Geld tauschen…unter der Ladentheke – und das zu einem sagenhaft guten Kurs! Geldautomaten gab es in Bo natürlich aber nicht.

Überfahrt über den Moa-Fluss
Überfahrt über den Moa-Fluss

Im besten Hotel am Platz, das uns mit Müh‘ und Not Falafel machen konnte, erkundigte sich Saidhu nach der besten Route nach Tiwai Island. Ihm wurde die Strecke empfohlen, die auch unser Navi suggerierte, während der Lonely Planet, eine andere Strecke empfahl – allerdings für Leute, die mit Bus und Motorradtaxi unterwegs waren. Tiwai Island ist, wie es der Name schon sagt, eine Insel, abgeschieden gelegen im Süd-Osten Sierra Leones, kurz vor der Grenze zu Liberia. Abhängig von der gewählten Route, kommt man also westlich oder östlich der Insel an. Dass dieser Umstand noch sehr entscheidend für die spätere Abendgestaltung werden würde, hatten wir in Bo noch nicht auf dem Schirm. Zunächst waren wir wieder positiv überrascht, dass sich auch die Straße ins 70 km entfernte Kenema in einwandfreiem Zustand befand. Doch die letzten 47 km hatten es dann in sich.


Ich zweifelte schon daran, warum in Sierra Leone eigentlich alle Organisationen mit solch monströsen Geländewagen unterwegs waren, aber die Strecke bis Mapuma belehrte mich, dass hier doch alles Sinn und Zweck hat, zumal wir in der Trockenzeit unterwegs waren. Unbefestigte Straßen sind, wenn es nicht geregnet hat, im optimalen Zustand fast so angenehm zu befahren, wie Teerstraßen. Wenn die Regenzeit aber erst wenige Wochen zurückliegt und in Sierra Leone glücklicherweise, die Regenzeit ihrem Namen noch alle Ehre macht, dann bekommt man einen Eindruck, wie die Buckelpiste nach Mapuma erst im nassen Zustand nahezu als unpassierbar daher kommt. Für diese Marathondistanz haben wir dann praktisch genauso lange gebraucht, wie die afrikanischen Dauerläufer, etwas über 2 Stunden! Im Licht der untergehenden Sonne erreichten wir Mapuma und im Dorf wusste gleich jemand Bescheid, was Tiwai Island sei – das war die Kilometer davor nicht der Fall. Saidhu wollte sich anfangs mehr oder weniger in jedem Dorf vergewissern, auf der richtigen Route unterwegs zu sein und weniger auf das Navi vertrauen. Da die Kenntnisse der Passanten aber doch recht dürftig ausfielen, verließ er sich dann doch mit zunehmender Entfernung von der Teerstraße auf das Navi, was sich tatsächlich mal im afrikanischen Busch bewährte.

Kurz vor Sonneuntergang scheint das Ziel erreicht
Kurz vor Sonneuntergang scheint das Ziel erreicht

Ruck zuck standen zwei kräftige Männer bereit, die letzten paar Hundert Meter mit uns bis zum Fluss im Auto zurückzulegen. Unsere Rucksäcke wurden auf zwei Einbäume getragen und mit Saidhu machten wir eine Abholzeit aus, zu der er wieder in Mapuma vorbeischauen sollte – schließlich benötigten wir ihn die nächsten 3 Tage nicht und da seine Mutter in Kenema lebte, schlugen wir ihm vor, doch einfach mit dem Auto dorthin zu fahren, wenn er Lust auf Familienbesuch hätte. Wir stiegen in die Boote und ließen uns von den Jungs in den Sonnenuntergang paddeln. Dass diese Macheten dabei hatten, fiel mir erst auf, als sie unsere Rucksäcke schulterten und auf den Trampelpfad in den Dschungel einbogen. Mit Taschenlampen bewaffnet ging es über Stock und Stein an Lianen vorbei in die Dunkelheit. Ich wollte partout die Frage vermeiden, wie weit es eigentlich bis zum Visitors Centre sei, doch nach einer halben Stunde des Nachtwanderns überkamen mich dann doch erste Zweifel. Wir liefen gerade durch die finstere Nacht mitten in Westafrika, vor uns und hinter uns zwei kräftige junge Männer in Gummistiefeln mit Macheten „bewaffnet“. Plötzlich stoppten die beiden…es galt nur einen kleinen Flusslauf zu queren. Dafür wurden wir beide Huckepack genommen – damit wir keine nassen Füße bekamen.


Nach rund einer Stunde, kamen wir auf einer Lichtung an und sahen im Dunkel zwei Gebäude: die Research Station! Hier übernachteten zu anderen Zeiten mal Wissenschaftler, um die Besonderheiten von Tiwai Island zu erforschen: Zwerg-Flusspferde und insgesamt elf Primaten-Arten! Es gibt wenige Flecken auf unserer Erde, die durch so einen Artenreichtum an Affen bestechen, wie Tiwai Island. Dass wir jetzt in stockfinsterer Nacht vor den verschlossenen Gebäuden standen beunruhigte mich jetzt doch ein wenig, aber ich wusste, dass es noch ein paar Hundert Meter zum Visitors Center sind. Und irgendwann würde man sicherlich den ersten Lichtschein des Visitors Centers entdecken. Nach weiteren 15 Minuten die nächste Lichtung. „This is the Visistors Center!“ sprach einer unserer beiden Begleiter aus. „Was, hier ist doch keine Sau!“ dachte ich mir und sprach es wohl auch so aus. Diese Verzweiflung musste doch irgendwie raus. Wo sind eigentlich die ganzen Leute, die auf der Webseite so nett mir entgegen blickten und die wussten, dass wir heute hier ankommen sollten?

Überfahrt im Einbaum
Überfahrt im Einbaum

Unsere Begleiter bliesen natürlich alles andere als Trübsal und schalteten das Licht an. Eine große Schutzhütte mit Tisch und Stühlen kam zum Vorschein. Dann sprang schon einer der beiden in Richtung Büsche und knipste eine weiter Lampe an: Die Häuschen mit Klo und Dusche, schön getrennt nach Weiblein und Männlein! Im Lichtschein konnten wir nun auch weitere Gebäude erkennen und mehrere Unterstände, in denen Zelte aufgebaut waren. Einer unserer Begleiter sprintete direkt weiter. Er sollte die Leute aus dem Dorf Kambama holen, das westlich von Tiwai Island liegt. Jetzt ging mir endlich auch ein Licht auf. Hier wird tatsächlich nur das Touriprogramm hochgefahren, wenn es Touris gibt. Macht ja auch Sinn! Nur dass wir donnerstags abends in der Hauptsaison die einzigen Gäste sind, hatten wir nicht bedacht. Und dass man normalerweise in Kambama und nicht in Mapuma ankommt, wenn man hierher möchte, und dann die Einheimischen automatisch wissen, dass Gäste kommen, ist auch einleuchtend.


Wir duschten und machten es uns gemütlich, soweit das eben auf Plastikstühlen bei 30° C in den Tropen geht. Nach einer weiteren Stunde hörten wir plötzlich Stimmen und insgesamt kamen 11 Dorfbewohner an, um uns zu versorgen. Sie entschuldigten sich zunächst, dass ihnen leider niemand Bescheid gegeben hatte – die Reservierung ist wohl in Freetown hängen geblieben. Uns wurde ein Zelt zugewiesen, nachdem dieses nochmal so richtig mit Mückenschutz voll gesprüht wurde. Auf unsere Frage hin, ob wir noch etwas zu essen bekommen könnten und möglichst vegetarisch, wurde uns tatsächlich noch Spaghetti mit Tomatensoße kredenzt. Und für 7 Uhr am nächsten Tag vereinbart, einen Waldspaziergang zu machen! Was für ein Tag!

Das Visitors Center von Tiwai Island bei Tag
Das Visitors Center von Tiwai Island bei Tag

Nach einer sehr angenehmen Nacht mit allerlei unbekannten Naturgeräuschen, stand morgens um 7 tatsächlich unser Guide am Visitors Center. Nach einem obligatorischen Kaffee ging es auf die Pirsch, um einige der elf Primatenarten in den Baumwipfeln von Tiwai Island zu entdecken. Die Umgebung des Visitors Centers wurde mit schachbrettartigen Pfaden angelegt, die es den Besuchern möglich machten, im Dickicht des Dschungels einigermaßen voranzukommen, um bspw. die Red Colubus Gruppe im ersten Licht der Sonne zu beobachten. In Kopfhöhe beeindruckten riesige Spinnen mit ihren Netzen und der Spaziergang war die reinste Erholung. Danach gab es im Visitors Center Pfannkuchen. Für Nachmittags wurde eine Fahrt auf dem Fluss vereinbart und die meisten Dorfbewohner verließen das Visitors Center wieder, bis auf einen alten Herrn, der an der langsam abkühlenden Feuerstelle verharrte. Gegen Mittag stellten wir uns die Frage, wann es eigentlich Mittagessen gäbe. Der alte Mann konnte nur sehr wenig Englisch und es war irgendwie überhaupt nicht aus ihm herauszubekommen, ob, wann und was es gäbe. So gegen halb zwei hatten wir unser Mahl schon aufgegeben, als plötzlich Stimmen zu hören waren und unser Mittagessen in Töpfen gebracht wurde. Es gab Vollkornreis mit herrlich scharfer Gemüsesoße: veganes Sierra-leonisches Homecooking! Wir waren wieder mit der Welt versöhnt.

Leckeres veganes sierra-leonisches Homecooking
Leckeres veganes sierra-leonisches Homecooking

Nachmittags ging es dann den Fluss aufwärts mit dem Ruderboot. Die herrlichen Naturgeräusche wurden plötzlich von Bässen und elektronischer Musik übertrumpft. Ein Dorffest stand in Kambama an. Ob wir sie begleiten wollten, fragte uns schon der Bootsführer. Die Musik war alles andere als Getrommel, was wir im allgemeinen unter afrikanischer Musik verstanden. Die Mucke war so la la – aber uns musste sie ja auch gar nicht gefallen. Allerdings hatten wir schon ein wenig Angst vor der kommenden Nacht. Denn die Lautsprecher taten ihr Bestes, um die gesamte Gegend in ohrenbetäubender Lautstärke zu beschallen. Wir haben ja mit ziemlich viel gerechnet, aber dass uns mitten in der Pampa Westafrikas womöglich der Schlaf aufgrund von Bässen geraubt werden würde, war dann doch eine skurrile Vorstellung. Doch damit nicht genug. Nachdem uns gegen halb sieben das wieder leckere Essen kredenzt wurde, verabschiedeten sich auch die letzten Dorfbewohner inklusive des älteren Herren, der den ganzen Tag hier ausgeharrt hatte. Sie würden später nach dem Fest wieder kommen, wurde uns noch mitgeteilt und ruck zuck war es mucksmäuschenstill. Wir waren von der Situation dermaßen überrumpelt, dass wir nur kurz Bye Bye sagen konnten und das Essen zunächst genossen. Mit der Zeit fing dann bei uns doch das Kopfkino an, seinen Film abzuspulen. Wir befanden uns alleine auf einer Insel in Sierra Leone, ohne Boot, ohne Brücke sprich ohne physische Verbindung zur Außenwelt. Auch das Mobiltelefon funktionierte hier nicht, trotz Africell-SIM-Karte. Folglich kamen wir hier ohne fremde Hilfe nicht mehr weg. Doch es galt ja jetzt fürs Erste die kommende Nacht zu überstehen…