Geschichten von unterwegs: Impfung

„Impfung“  – um dieses Wort drehen sich am Jahresanfang 2021 Mitten in der Pandemie viele Diskussionen. Insbesondere für Reisende sind Impfungen seit jeher Routine – so wie es zum Beispiel für Asienbegeisterte Masken schon immer waren oder für die meisten Fernreisenden eine gründliche Handhygiene, zumindest wenn man Durchfallerkrankungen vermeiden wollte. Mit diesen Themen hatte ich mich am Anfang der Pandemie in den beiden Artikeln zu Masken und Händewaschen beschäftigt. Da sich aktuell so viel um das Thema „Impfung“ dreht, möchte ich dieses anhand von fünf Geschichten beleuchten, die ich auf Reisen durch Südamerika, Afrika und Asien erlebt habe.

Impfungen werden außerhalb Europas meist sehr dankbar entgegengenommen.
  • Impfpflicht in einem EU-Territorium

Verpflichtende Impfungen, wie sie aktuell debattiert werden, gibt es schon seit sehr langer Zeit – zumindest seitdem ich 1992 angefangen habe, außerhalb Europas ohne meine Eltern zu reisen. Ich denke da gar nicht an die bei uns im März 2020 eingeführte Masern-Impfpflicht, die ja nur für Menschen in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen gilt. Bereits seit Jahrzehnten existiert eine Gelbfieber-Impfpflicht für ein EU-Territorium und niemand hat sich bisher darüber aufgeregt. Ohne den entsprechenden Nachweis im gelben Impfausweis, ist eine Einreise nach Französisch-Guayana nicht möglich. Dieses französische Überseedepartement liegt in Südamerika, gehört aber zur „Grande Nation“ und zur EU. Die Flugzeit auf diesem innerfranzösischen Flug ab Paris beträgt mehr als acht Stunden und bei meinem Besuch 2002 wurde tatsächlich geprüft, ob ich die Gelbfieber-Impfung mindestens 10 Tage zuvor habe machen lassen. Ohne Impfung keine Reise in die Hauptstadt Cayenne – so einfach war das, da dieses Territorium nördlich von Brasilien zum Gelbfieber-Infektionsgebiet gehört. Fakt ist auch, dass viele Länder Reisende, die sich unmittelbar vor der Reise in einem Gelbfieber-Infektionsgebiet aufgehalten haben, nur mit entsprechender Impfung ins Land lassen. Ebenfalls Fakt ist, dass es (bisher) nicht die Airlines sind, die solche Impfpflichten aufstellen, sondern die Länder, in die die Airlines die Menschen befördern. Daher ist es natürlich gut, dass das vor dem Abflug geprüft wird.

Tropisches Frankreich: Französisch Guayana, 2002 bereist und ein EU-Territorium mit Gelbfieber-Impfpflicht
  • Wer kann sich schon das Geld für eine Spritze leisten?

Es gibt auch Länder, die führen aufgrund besonderer Ereignisse eine zeitweilige Impfpflicht ein: so geschehen beispielsweise 1998 in Burkina Faso. Dort fand der Afrika-Fußball-Cup statt. Das Land rechnete mit erhöhtem Reiseverkehr aus allen Staaten des Kontinents und führte daher eine Impfpflicht gegen Meningokokken ein. Darüber wusste ich gar nicht Bescheid, bekam die Impfung allerdings vor meiner Abreise nach eingehender Beratung im Impfzentrum Mainz verabreicht. Anders erging es meiner Mitreisenden, die eine Abneigung gegen Spritzen hatte. Sie hatte eine Art Phobie und sich daher vor der Abreise in Deutschland nicht impfen lassen. An der Grenze zwischen Mali und Burkina Faso angekommen, wurde sie vor die Wahl gestellt, wieder nach Mali zurückzukehren oder sich impfen zu lassen. Die Impffläschchen wurden in einer Kühltasche gelagert und die Kühlakkus sollten für die notwendige Kälte sorgen. Geimpft wurde im Lichtschein einer Öllampe, da wir erst abends die Grenze erreichten. Das waren weitaus unangenehmere Voraussetzungen als der Besuch im Impfzentrum in der Mainzer Uniklinik. Der Impfstoff an der Grenze war gratis. Jedoch musste für die Spritze bezahlt werden. Diese 0,20 Euro konnten sich viele Einreisende nicht leisten – so wurden sie vor Meningokokken geschützt, haben sich aber durch die Mehrfachnutzung der Spritze womöglich mit HIV oder anderen Krankheiten angesteckt – vor denen sogar auf großen Werbetafeln direkt an der Grenze gewarnt wurde. Eine wahrlich schlimme Szene, die so beispielhaft für so viele Dramen auf unserer Erde steht, von denen wir aber in der heimeligen Wohnung nichts mitbekommen, weil sie zu unbedeutend für die täglichen Nachrichten sind.  

Gästefans aus Kamerun in Burkina Faso 1998 – Grund eine temporäre Impfpflicht gegen Meningokokken einzuführen.
  • Impfgeschirr als Mittel zur Korruptionsbekämpfung

Eine Impfpflicht lädt korrupte Beamte auch immer zu einem Nebenerwerb ein. So eine Gestalt ist meinen beiden Mainzer Freunden und mir 1995 auf dem Weg von Mainz nach Kapstadt bei der Einreise in ein Land ebenfalls begegnet. Damals war die Cholera-Impfung in vielen Ländern noch Pflicht. Beim Studieren meines Impfausweises sagte der Beamte, die Impfung sei ungültig, da der Stempel meines Mainzer Arztes größer als das davor vorgesehene Stempelfeld sei. Wir müssten die Impfung an Ort und Stelle wiederholen, es gäbe aber nur eine Spritze für alle. Bei der Vorbereitung auf diese Reise wurde uns empfohlen, Spritzen mitzunehmen, da diese in manchen Ländern Mangelware sind. So entgegneten wir dem Beamten, wir hätten überhaupt kein Problem damit, uns nochmals impfen zu lassen, da wir Spritzen dabei hätten. Völlig verdutzt entgegnete er uns nur noch „Go away“ und schon waren wir in das Land eingereist.

  • Gratis-Impfung auf Polizeibefehl

Ganz anders erging es mir mit Beamten in Malaysia 20003 auf meiner einjährigen Weltreise von Mainz Hauptbahnhof nach Mainz Süd. Ich hatte mich im Dschungel für drei Tage verlaufen und mich mit Hilfe meines Kompasses aus dieser Bredouille selbst befreien können. Da ich im Dickicht bereits am ersten Tag auf einen Österreicher traf, dessen Familie im Dorf auf ihn vergeblich wartete, verständigte diese die Polizei. Die 16 Beamten fanden uns zwar nicht, aber als wir wieder im Dorf ankamen, mussten wir zum Polizeichef. Dieser sah die Schrammen auf unseren Armen und Beinen und meine völlig zerrissene Wanderhose. Schließlich ging es zuvor durch sehr viel dornige Büsche raus aus der Natur zurück in die Zivilisation. Er schickte uns ins Dorfkrankenhaus. Dort erhielten wir eine Auffrischung der Tetanus-Impfung, da aufgrund der vielen Schrammen nicht auszuschließen war, dass der eigentlich noch wirksame Impfschutz eventuell nicht mehr gegeben sei. Die Impfung war für uns kostenlos, da in Malaysia das Gesetz besagt, dass Patienten, die von der Polizei eingewiesen werden, gratis zu behandeln sind. 

Im Dschungel hinter den Teeplantagen lag der Grund, warum ich in Malaysia eine Tetanus-Impfung gratis bekam
  • Tollwut – (k)eine Impfung vorhanden

Eine ganz andere Problematik erlebten wir bereits zweimal mit der Tollwut-Impfung. Es gibt Regionen auf der Welt, die tollwutfrei sind, zum Beispiel Singapur. Daher konnten wir dort 2012 keine Tollwut-Impfung auftreiben. Tags zuvor waren wir von einer Katze auf Bali kurz vor Abflug nach Singapur gekratzt worden. Die indonesische Insel gehört zum Verbreitungsgebiet von Tollwut.  Bei Tollwut wird immer lieber einmal zu viel als einmal zu wenig geimpft, da diese Krankheit nahezu immer tödlich verläuft, wenn die Krankheit einmal ausgebrochen ist – es gibt kein Medikament dagegen. Daher flogen wir relativ schnell zurück nach Deutschland und holten dort die Auffrischung im Impfzentrum Mainz nach, da auch hier der behandelnde Arzt auf Nummer sicher gehen wollte. Sieben Jahre später eine ähnliche Situation im Oman 2019. Eine kratzende Katze und die Frage, wo wir die Impfung herbekommen sollten, da auch im Oman Tollwut noch grassiert. Im Krankenhaus der nächst größeren Stadt wurde uns ein Impfplan erstellt, da beim Wirkstoff, der im Oman verwendet wird, eine 3-fach Impfung notwendig ist, bei der alle 3-4 Tage geimpft werden soll. So lernten wir die Krankenhäuser des Landes ganz gut kennen – und das alles wieder gratis, da es ein Initiative der omanischen Gesundheitsbehörden gibt, um den Erreger der Tollwut zu bekämpfen. Bei dieser Initiative wird nicht nach Pass oder Herkunft entschieden, ob sie Anwendung findet. Sie gilt für alle Menschen, egal ob Touri oder Omani – schließlich macht auch der Tollwut-Erreger da keine Unterschiede. Übrigens hätte unsere Auslandskrankenversicherung die Impfungen alle übernommen, im Oman genauso wie in Malaysia oder Burkina Faso. Viele gesetzliche Krankenversicherungen übernehmen mittlerweile auch die Kosten für die Impfungen, die man vorab für eine Reise bekommt – inklusive der Kosten für die Impfberatung.

Auch Bali gilt als Tollwut-Risikogebiet, in dem nach einem Kratzer oder Biss durch eine Katze eine Impfung ratsam ist.

All diese Beispiele zeigen, um welche wichtigen Fragen es beim Impfen tatsächlich geht, sprich oft um Leben oder Tod. Das trifft auf die Tollwut-Impfung auf jeden Fall zu. Es geht auch um gesetzlich vorgeschriebene Solidarität bei der Gelbfieber-Impfung, denn natürlich gibt es Menschen, die diese Impfung tatsächlich nicht vertragen. Diese Menschen sollen durch geimpfte Menschen geschützt werden, um das Virus im Zaum zu halten. Es geht auch immer um die Menge der Viren/Bakterien, die man abbekommt, wie das Beispiel Tetanus in Malaysia zeigt. Es dreht sich auch immer um das Thema Angst, mit dem zum Beispiel der korrupte Beamte Geld erpressen wollte, denn es war schon klar, dass ein überdimensionierter Stempel den Impfschutz nicht beeinflusst und viele Menschen haben tatsächlich eine Phobie vor Spritzen. Und es geht um das Thema Geld, wie das dramatische Beispiel der 0,20 Euro für die Spritzen in Burkina Faso zeigt.

All diese Beispiele verdeutlichen auch, worum es nicht geht: Um das Anzweifeln von wissenschaftlichen Ergebnissen. Diese Ergebnisse sind Voraussetzungen dafür, dass Impfungen überhaupt zugelassen werden. Nein, niemand muss gutgläubig alles „schlucken“ (oder sich eine Spritze setzen lassen), aber Vertrauen in Experten sind Basis für ein Gemeinwohl. Das Internet bietet für jede Meinung einen Beleg. Wichtig sind aber die Fakten, die anhand von seriösen Quellen nachvollzogen werden können. Die meisten Menschen außerhalb Mitteleuropas haben gar nicht die Zeit, sich stundenlang mit irgendwelchen Theorien auseinanderzusetzen, da sie sich im Alltag mit dem Überleben „beschäftigen“ müssen. Und manche dieser Menschen haben sogar an Studien teilgenommen, die Voraussetzung dafür sind, dass Impfungen von Biontech, Moderna und Co. so schnell nach Ausbruch der Pandemie verfügbar waren. Und warum das alles so schnell ging, kann man auf der Seite „Zusammen gegen Corona“ des Bundesministeriums für Gesundheit nachlesen.

Bis den meisten von uns ein Impfangebot gegen Corona unterbreitet wird, haben wir also genügend Zeit, seriöse Quellen zu studieren und uns wieder anmal daran zu erinnern, welche Privilegien wir hier in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern genießen, wenn es um das Thema Impfen geht.

Bildnachweis: Christoph Kessel, Pixabay

Raus aus der Deutschland-Blase

„Was? Jetzt auf Reisen gehen?“ „Ist das nicht verboten?“ – das war das Feedback, das wir im November erhielten, als wir unserem Umfeld mitteilten, dass wir tatsächlich für das Jahr 2020 noch Reisepläne hatten.

Während das Reisen für manche von uns schlicht Urlaub bedeutet, sind andere Menschen aufgrund ihres Berufs teilweise gezwungen, geschäftlich zu reisen. Wieder andere Menschen haben Verwandte in anderen Regionen Deutschlands, im Ausland oder sogar auf einem anderen Erdteil sitzen. Weder Geschäftsreisen noch Verwandtenbesuche fallen somit in die „Spaß-Kategorie“, in die eine Urlaubsreise natürlich hineingehört. Und in Zeiten der Pandemie wird in solchen Kategorien gedacht.

Das Robert-Koch-Institut nimmt zum Thema „Reisen“ in seiner „Strategie-Ergänzung“ Stellung.

Aufgrund der Tatsache, dass bei uns seit Anfang November alle Bereiche, die der „Spaß-Kategorie“ zuzuordnen sind, geschlossen sind, liegt natürlich die Schlussfolgerung nahe, dass auch Reisen an sich verboten sind. Allerdings gilt dies nur für touristische Reisen, die, wie bereits erwähnt, der „Spaß-Kategorie“ zuzuordnen sind. Gleichzeitig gilt dieses Verbot nur für das Inland. Denn, anders als es manche Zeitgenossen behaupten, haben wir Deutsche immer noch die Freiheit uns zu bewegen – natürlich auch ins Ausland. Gerade im Ausland schreibt uns der deutsche Staat überhaupt nicht vor, wie wir uns verhalten sollen. Allerdings gibt es natürlich Vorgaben des Gastlands, die teilweise härter sind als in Deutschland, was Masken-Verweiger*innen hart treffen kann.

Trotzdem appellieren viele Menschen aktuell daran, nicht zu reisen. Diese Appelle sind so lange vollkommen in Ordnung, so lange nicht irrtümlich behauptet wird, dass Reisen aktuell ja gar nicht möglich oder gar verboten sind. Das Robert-Koch-Institut bringt es in seiner „Strategie Ergänzung zu Die Pandemie in Deutschland in den nächsten Monaten – Ziele, Schwerpunktthemen und Instrumente für den Infektionsschutz“ auf den Punkt: „Hierbei ist es wesentlich zu betonen: erhöhte Mobilität (berufliche oder private Reisetätigkeit) bedeutet erweitertes Risiko; jedoch ist dieses Risiko nicht primär an den Ort der Reise oder ein spezifisches Gebiet gebunden, sondern hängt wesentlich von dem Verhalten des Einzelnen in einem Gebiet mit Virusübertragungen ab.“

Sprich, natürlich ist die beste Möglichkeit, sich und andere in der Pandemie zu schützen, sich abzusondern. Allerdings ist das in der Praxis unmöglich. Wir alle müssen einkaufen gehen – denn die Inanspruchnahme von Lieferdiensten ist für die meisten von uns über Monate hinweg schlicht nicht bezahlbar. Unentgeltliche Hilfe anzunehmen, z.B. durch Fußballfans, die so etwas in Mainz organisieren, sollte denjenigen vorbehalten bleiben, die zu einer Risikogruppe gehören. Also ist es zunächst einmal unmöglich, sich komplett zu isolieren. Auf die psychischen Folgen einer solchen Isolation gehe ich gar nicht erst ein. Und Homeoffice dürfen auch nicht alle machen.

Dennoch ist es gerade vollkommen hip, sich einzuigeln und davon vorzugsweise in den sozialen Netzwerken zu berichten: zu Hause, in der eigenen Stadt, in der eigenen Region, im eigenen Land. Natürlich ist es richtig, seine Kontakte zu reduzieren, wo immer das möglich ist, um Übertragungswege zu vermeiden. Natürlich ist es gut für die Umwelt, wenn wir regional einkaufen – dabei aber am besten zu Bio-Produkten zu greifen, die vegan sind. Gerade der letzte Punkt stößt bei vielen Menschen auf keine große Gegenliebe. Da sind wir bei einer Gabe angelangt, die viele Leute gerade in den sozialen Netzwerken in sich tragen: Das Missionieren. Ich halte davon sehr wenig, da sich Menschen nicht gerne vorschreiben lassen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Vielmehr sollte sich eine innere Überzeugung entwickeln, gegebenenfalls sein Verhalten zu verändern. Natürlich muss es in einem Staat auch Sanktionen geben, aber gerade in der Pandemie ist es wichtig, dass man ein Verhalten an den Tag legt, von dem man überzeugt ist, dass es sinnvoll ist, sich und andere zu schützen.

Nimmt man nun die oben genannten Aussagen des Robert-Koch-Instituts und kombiniert diese damit, dass man selbst davon überzeugt ist, dass die AHA-Regeln (Abstand halten, Hygiene und Alltagsmasken) sinnvoll sind, steht meiner Meinung nach einer Reise zunächst nichts im Wege. Da touristische Reisen innerhalb Deutschlands verboten sind, ist es nur logisch, gegebenenfalls eine Reise ins Ausland anzutreten. Diese Entscheidung muss jede*r selbst treffen. Dass sich Menschen womöglich gegen eine touristische Reise raus aus Deutschland entscheiden, ist absolut verständlich. Wir können uns glücklich schätzen, dass bisher unser Gesundheitssystem nicht überlastet wurde, und es zu keiner Triage gekommen ist, bei der Ärzte entscheiden müssen, wem geholfen werden kann und wem nicht. Natürlich kann man sich im Ausland nicht sicher sein, dass man auf ein solch robustes Gesundheitssystem trifft. Und natürlich sollte man als Reisende dieses System auch erst gar nicht zusätzlich belasten. Aus diesem Grund eine Reise nicht anzutreten ist sehr honorig. Dieses Argument gilt jedoch auch in Zeiten außerhalb einer Pandemie.

Allerdings habe ich das Gefühl, dass wir uns gerade hauptsächlich mit uns selbst beschäftigen – mit uns selbst als Deutschland. Wir fokussieren uns in der Pandemie auf unsere Umgebung und unser Land. Das ist natürlich vollkommen in Ordnung. Aber der Begriff Pandemie drückt es ja schon aus. Diese betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch unsere Nachbarländer und sogar andere Kontinente. Wir sind natürlich alle eingeschränkt. Manche von uns sogar extrem, was die wirtschaftliche Situation angeht, wenn man Solo-Selbständige*r ist. Aber es gibt sicherlich Menschen im Ausland, die die Pandemie härter trifft als die meisten von uns. Das wird aktuell in nahezu allen Diskussionen vergessen. Leider reicht manchmal der Blick der Empörten nur an den Rand des besagtenTellers – im besten Fall bis nach Moria, wo viele Flüchtlinge in noch größerem Elend leben, als vor dem Brand des Flüchtlingslagers im Oktober. Es ist gut, dass es bei uns so viele Menschen gibt, die sich für die Geflüchteten dort einsetzen. Aber ist es nicht auch gut, sich gegebenenfalls für Menschen einzusetzen, die sich eine Flucht erst gar nicht leisten können und in ihrer Heimat unter der Pandemie leiden?

„Risikogebiete“ im Ausland werden auf der Seite des Robert-Koch-Instituts ausgewiesen

Die Spendenbereitschaft ist aktuell unter den Bundesbürger*innen immer noch hoch – sie lag zumindest im Sommer laut Tagesschau sogar höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Dabei wird vor allem gerne für Projekte vor Ort gesammelt und gespendet, sei es für gemeinnützige Organisationen oder für die schwächsten der Gesellschaft. Schließlich bekommt man das Elend vor der eigenen Haustür direkter mit, als das von Menschen auf anderen Erdteilen. Dies korreliert auch mit entsprechender Empathie: Umstände, mit denen wir direkt konfrontiert werden, machen uns eher betroffen als die Not, die wir nur mit Hilfe von fundierten Beiträgen durch Journalisten, Blogger*innen, Freund*innen oder vom Hörensagen her mitbekommen. Und gleichzeitig kann diese Gabe in der Pandemie auch sehr gefährlich sein. Die Schwachen der Gesellschaft sind ein Teil unserer Gemeinschaft, genauso wie unsere Freunde, Kolleg*innen und Verwandte. Diese bekannten Kontakte stuft man unwillkürlich oft als ungefährlich ein. Das Virus unterscheidet aber nicht zwischen guten und schlechten oder bekannten und unbekannten Kontakten.

Daher bietet das Reisen sogar einen gewissen Selbstschutz: Alle sind fremd und man geht unwillkürlich auf Distanz. Im Kreise der Lieben ist es tatsächlich schwer, diese Distanz zu halten. Daher ist es auch so schwierig, die Ansteckungen aktuell zu reduzieren. Dadurch sind wir in Deutschland selbst zu einem so genannten „Risikogebiet“ geworden. Das Robert-Koch-Institut schreibt in seiner „Informationen zur Ausweisung internationaler Risikogebiete durch das Auswärtige Amt, BMG und BMI“ dazu: „Die Einstufung als Risikogebiet erfolgt nach gemeinsamer Analyse und Entscheidung durch das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. Die Einstufung als Risikogebiet basiert auf einer zweistufigen Bewertung. Zunächst wird festgestellt, in welchen Staaten/Regionen es in den letzten sieben Tagen mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gab. In einem zweiten Schritt wird nach qualitativen und weiteren Kriterien festgestellt, ob z.B. für Staaten/Regionen, die den genannten Grenzwert nominell über – oder unterschreiten, dennoch die Gefahr eines nicht erhöhten oder eines erhöhten Infektionsrisikos vorliegt.“.

In Deutschland lag der Wert Mitte Dezember bei mehr als 150 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner. Natürlich gibt es regionale Unterschiede in Deutschland, was diesen Wert anbetrifft, aber zumindest für meinen Wohnort Mainz trifft die Definition „Risikogebiet“ seit Wochen zu. Natürlich können die deutschen Behörden nicht für jedes Land der Welt eine regionale Abstufung vornehmen. Folglich werden Länder pauschal zu Risikogebieten erklärt, bei denen es natürlich Regionen geben kann, in denen die Fallzahlen teilweise geringer sind als in Deutschland. Um zu vermeiden, dass Reiserückkehrer*innen andere Menschen anstecken, müssen Reiserückkehrer*innen aus Risikogebieten seit November für zehn Tage in Quarantäne. Diese Maßnahme sorgt zusätzlich dafür, dass von Reisenden für Deutschland keine größere Gefährdung durch eine Ansteckung ausgeht. Somit laufen Parolen „Wir bleiben zu Hause“ ins leere, wenn sie Menschen, die ins Ausland reisen, entgegengehalten werden. In der Zeit, in der man sich im Ausland in einer Region mit niedrigeren Fallzahlen als zu Hause befindet, sich an die AHA-Regeln hält und Kontakte vermeidet, sorgt man dafür, das Ansteckungsrisiko zu vermindern. Dadurch zeigt man sich unweigerlich solidarisch mit der Gesellschaft zu Hause in Deutschland. Das mag nicht jeder und jedem Gefallen, aber sind es nicht am Ende die Fakten, die zählen sollten und nicht das pure Bauchgefühl?

Aufräumen im eigenen Kopf

Eigentlich ist rein biologisch gesehen alles ganz einfach. Wir sind irgendwann auf diesem Planeten geboren worden. Diese Gemeinsamkeit haben wir alle auf unserer Erde. Die zweite Gemeinsamkeit: Irgendwann gehen bei uns allen die Lichter wieder aus.

Das war es allerdings mit den Gemeinsamkeiten auch schon. Das, was zwischen Geburt und Tod liegt, nennen wir bei Pflanzen, Tieren und Menschen Leben. Das Leben der Pflanzen und der Tiere klammere ich dieses Mal bewusst aus, obwohl es natürlich angebracht ist, diese Lebewesen zu respektieren, zu schützen und sich für sie einzusetzen – alleine schon deswegen, damit wir und unsere Nachkommen eine lebenswerte Welt vorfinden.

Wir Menschen sind bei der Geburt alle gleich. Kein Kind kommt mit einer implementierten Kreditkarte ohne Limit oder einer eingeimpften Staatsbürgerschaft auf die Welt. Wir alle erblicken mehr oder weniger auf dieselbe Art und Weise das Licht der Welt. In eben jenem Moment allerdings gelten bereits Konventionen, die nicht natürlich sind, sondern von Menschen festgelegt wurden.

Welchen Sechser die meisten von uns im „Geburtslotto“ hatten, ist uns sicher nicht immer bewusst. Als Deutsche Staatsbürger haben wir seit unserer Geburt zahlreiche Privilegien, die uns in die Wiege gelegt wurden – ohne unser Zutun. Wir hätten auch Staatsbürger eines der anderen fast 200 Länder dieser Welt werden können. In den meisten Fällen wäre damit der Start ins Leben wahrscheinlich schwieriger ausgefallen. Das fällt mir aktuell wieder ein, da wir uns aufgrund der Pandemie in einer Ausnahmesituation befinden: Als Deutsche haben wir eine Bewegungsfreiheit ohne Gleichen. Wir können die meisten Ziele dieser Welt besuchen, ohne begründen zu müssen, warum wir uns dorthin begeben möchten. Länder, Grenzen, Staatsbürgerschaften sind nicht einfach so vom Himmel gefallen. Manche Ländergrenzen wurden von Menschen mit dem Lineal gezogen. Für die meisten Menschen auf unserer Welt ist das Passieren einer Grenze ein Ding der Unmöglichkeit. Die älteren unter uns können sich noch an die innerdeutsche Grenze erinnern. Wollte man sich von Thüringen nach Bayern begeben, war das bis 1990 womöglich ein Todesurteil. Das ist gerade mal 30 Jahre her – doch im Vergessen und Verdrängen liegt eine unserer Kernkompetenzen. Möchten Menschen ihren aktuellen Wohnsitz verlegen, z.B. von Aleppo nach Mainz, dann scheitert das nicht daran, dass ein Ozean dazwischenliegt, sondern daran, dass wir Menschen Grenzen gezogen haben, die das verhindern. Ich durfte diese 1995 in umgekehrter Richtung relativ einfach passieren. Als Deutscher konnte ich mit dem Zug problemlos nach Österreich fahren. Ich bekam ein Visum für Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgestellt. Die Türkei ließ mich mit dem deutschen Pass ohne zusätzlichen Papierkram einreisen und auch für Syrien bekam ich, dem Bundesadler auf dem Pass sei Dank, das Visum problemlos ausgestellt. Ich galt als Tourist – jemand, der aktuell die umgekehrte Route mit einem syrischen Pass nimmt, gilt als Flüchtling. Definiert haben das Menschen – nicht Mutter Natur. Selbstverständlich wollte ich nur ein paar Tage in Syrien bleiben und umgekehrt möchte jemand, der bei uns Schutz sucht, so lange bleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Es geht bei dem Beispiel einfach darum zu zeigen, dass ein Stück Papier einen großen Unterschied macht – obwohl die Menschen biologisch gesehen nichts unterscheidet.

Voneinander lernen, wie hier in Sierra Leone, ist vielleicht das beste Mittel gegen Rassismus.

Kommen wir in Deutschland auf die Welt, ist die Chance relativ hoch, die ersten Tage zu überleben. Die Kindersterblichkeit ist weltweit von Land zu Land unterschiedlich. In Singapur, Island, Japan, Monaco und Slowenien liegt sie bei 2 Todesfällen pro 1000 Lebendgeborene, bei uns in Deutschland bei 3 und im Tschad bei 72, im Niger bei 79, in der Zentralafrikanischen Republik bei 84, in Somalia bei 93 und in Afghanistan bei 109. Natürlich herrscht in den letztgenannten Ländern ein anderes Klima. Das ist sicherlich noch nicht menschengemacht (wird es aber zunehmend, wenn uns Tiere und Pflanzen weiter egal sind). Die hohe Kindersterblichkeit liegt darin nicht begründet. Vielmehr ist sie darauf zurückzuführen, dass in all diesen Ländern Bürgerkriege die letzten Jahrzehnte geprägt haben. Diese Kriege sind kein Gesetz der Natur, sondern wurden von Menschen vom Zaun gebrochen. Die Gründe liegen teilweise einhundert Jahre zurück – z.B. in der willkürlichen Grenzziehung nach dem ersten Weltkrieg. Sofern wir jünger als 75 sind, ist die Chance relativ groß, dass wir noch nie einen Krieg miterleben mussten. Dass seit 1945 in Mitteleuropa Frieden herrscht, sehen wir oft als „natürlich“ an. Auf meiner Reise 1995 nach Syrien musste ich mich in Budapest entscheiden, ob ich über Belgrad oder Bukarest nach Istanbul reisen wollte. Niemand konnte mir in meinem Mainzer Reisebüro sagen, wie ich auf dem Landweg in die Metropole am Bosporus gelangen konnte. Daher besaß ich auch ein Visum für Rest-Jugoslawien. Von einer Reise dorthin wurde mir aber damals vom Auswärtigen Amt mittels der mittlerweile bekannten Reisewarnung abgeraten – weil in dieser Region gerade Krieg herrschte – eine Tages- und Nachtzugfahrt von Mainz entfernt. Das ist gerade mal 25 Jahre her und geographisch gesehen ebenfalls nicht sehr weit weg von uns.

Sprich – auf das Timing der Geburt kommt es an. Vor 1945 in Deutschland geboren worden zu sein, war nicht der oben genannte Sechser im Lotto. Und vor 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik geboren worden zu sein, vielleicht auch nicht. Ich schreibe „vielleicht“, weil ich es nicht miterlebt habe, das Leben in der DDR. Allerdings habe ich, seit ich denken konnte, mit dem Wort „DDR“ etwas assoziiert. Ich habe im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung über dieses Land etwas erfahren. Gespräche in der Familie über die DDR gab es kaum, weil wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Durch all die Einflüsse hat sich in meinem Kopf ein Bild der DDR geprägt. Es zeigt, dass ich nicht unvoreingenommen dieser DDR gegenübertrat. Ich habe Staatsbürger der DDR vor der Wende meines Wissens gar nicht getroffen. Trotzdem hatte ich mir ein Bild gemacht und in meinem Hirn etwas zu „DDR“ und den Menschen, die dort lebten, „abgelegt“.

Die Festung in Dakar, Senegal ist ein Relikt des Sklavenhandels – von hier wurden Schwarze Menschen nach Amerika verschifft. Der Spruch auf der Stehle blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.

Neben der „richtigen“ Staatsbürgerschaft und dem „richtigen“ Timing gibt es einen weiteren Faktor bei der Geburt, der den Start ins Leben massiv beeinflusst. Die bereits angesprochene imaginäre „implementierte Kreditkarte“ ohne Limit. Vor dem Gesetz sind wir Menschen in Deutschland alle gleich. Doch bei der Geburt entscheidet sich schon manchmal der gesamte Lebensweg. Qua Geburt sind wir bereits Erben. „Die Bundesrepublik gehört immer noch zu den OECD-Staaten, in denen der Schulerfolg eines Kindes deutlich enger vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt als in vielen anderen Ländern, sagt Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor.“ (Spiegel, vom 23.10.18) . Will sagen dass der Schulerfolg bei uns sehr wohl davon abhängen kann, ob man in eine finanziell gut ausgestattete Familie, bei der die Eltern Akademiker sind, hineingeboren wird, oder ob man in einer Familie aufwächst, die nicht so viel Kohle hat und in der die Eltern womöglich kein Abitur gemacht haben. Es macht auch einen Unterschied, mit welchem Geschlecht wir auf die Welt kommen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein hehres Ziel aber noch lange nicht erreicht.

Mit den bisherigen Zeilen wollte ich ausdrücken, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass wir so ein Leben führen, wie wir es aktuell führen – im Positiven wie im Negativen. Die Liste der oben genannten Beispiele ist sicher nicht abschließend. Jeder von uns hat Probleme und das Leben stellt uns jeden Tag vor neue Herausforderungen – das gilt für alle Menschen weltweit. Vielleicht haben die Beispiele gezeigt, dass es Wert ist, die eigene Situation neu zu betrachten. Durch den Ausbruch von Corona hat sich das Leben von uns allen verändert. Wir mussten in unserem Alltag Änderungen notgedrungen vornehmen. Wir haben aber auch gelernt, uns und andere zu schützen. Wir haben als Gemeinschaft gezeigt, dass wir bereit sind zu lernen, dass wir Änderungen in unserem Verhalten vornehmen können.

Wir können die Welt in ihrer Gesamtheit nicht „retten“. Wir können uns für die Schwachen der Gesellschaft engagieren, für die Gleichstellung der Geschlechter, für faire Arbeitsbedingungen, für das Klima und die Natur u.v.m. Das ist alles löblich und ich habe großen Respekt vor den Menschen, die sich jeden Tag dafür einsetzen, dass die Welt einen Tick „besser“ wird.

Ich erwarte so ein Engagement von Menschen für andere nicht – gerade weil viele Menschen auch in Deutschland große Probleme haben. Natürlich haben die eigenen Probleme Priorität. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir jeden Menschen nach seinem Handeln und Denken beurteilen sollten – nicht nach Staatsbürgerschaft, Alter, Geschlecht oder finanziellem Hintergrund. Aber das ist leider die graue Theorie. Schließlich gibt es da noch etwas, was uns Menschen unterscheidet: Die Hautfarbe.

Wenn man wie ich Rassismus nie erlebt hat, ist es fast unmöglich, nicht selbst das eine oder andere Mal in rassistische Denkmuster zu verfallen. Wer die bisherigen Zeilen gelesen hat, beweist Ausdauer. Diese Ausdauer kostet Zeit. Diese ist meiner Meinung auch notwendig, um „Rassismus [zu] entlernen“, wie Aminata Touré, Landtagsvizepräsidentin in Schleswig-Holstein sagt. Wir sollten „entlernen“, vielleicht sogar unbewusst, rassistisch zu agieren. Wir sollten Zeit investieren, um Artikel von Menschen zu lesen, die selbst von Rassismus betroffen sind und anschaulich beschreiben, wie Rassismus unterschwellig in unserem Alltag vorkommt – oft ungewollt und nicht so platt, dass jede*r bemerkt, um was es sich da gerade handelt. Ferner ist die Bereitschaft notwendig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das einen selbst gar nicht unmittelbar betrifft.

Ich habe die vorletzte Woche den Text von Alice Hasters im Deutschlandfunk gelesen „Warum weiße Menschen so gerne gleich sind“. Sie zeigt zahlreiche Ansätze auf, mit denen wir unser eigenes Denken und Handeln hinterfragen können. Zunächst einmal geht es um die Definition von Rassismus. Sie zitiert den amerikanischen Rassismusforscher Ibram X. Kendi, der Rassismus als „Jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet.“ definiert.

Diese Definition muss nach Hasters Meinung allerdings konkretisiert werden. Auf meinen Reisen durch Westafrika konnte ich an vielen Stellen koloniale Spuren des Rassismus an den Küsten des Senegals und Benins entdecken. Hier sind hunderttausende Schwarze Menschen verschifft worden, um in Amerika als Sklaven zu arbeiten. Organisiert wurde der Handel von Weißen, die sich den Schwarzen Menschen schlicht überlegen fühlten. Sie konstruierten „Rassen“ aufgrund der Hautfarbe. Daher ist die aktuelle Diskussion um das Entfernen des Wortes „Rasse“ aus dem Grundgesetz auch so wichtig – es gibt schlicht keine unterschiedlichen Rassen von Menschen. „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ stellt die Deutsche Zoologische Gesellschaft in ihrer Jenaer Erklärung fest.

Eine „Norm“ bei Menschen aufzustellen ist abwegig. Daher kann der weiße Mensch auch keine Norm sein.

 „Weiße Menschen haben die Theorie etabliert, dass Charaktereigenschaften, kulturelle und soziale Fähigkeiten mit biologischen Merkmalen zusammenhängen. Dieses System nennt sich White Supremacy – Weiße Vorherrschaft.“ so Hasters. Dieses Denken wurde in den letzten Jahrhunderten etabliert. Sklavenhandel wurde mit der Zeit weltweit fast überall verboten und auch der Kolonialismus ist seit nunmehr 50 Jahren mehr oder weniger passé. Doch es kommt auf das Denken und Handeln von uns an. Papier ist geduldig. Wir sollten uns selbst fragen, ob wir auf einen uns unbekannten Schwarzen Menschen, der uns begegnet, genauso reagieren, wie auf einen Weißen. Es muss unerträglich sein, jeden Tag auf der Straße anders angeschaut zu werden, als andere Mitbürger*innen. Hasters beschreibt diese so genannte „Mikroaggression“ als „Mückenstiche“. Wie die Reaktion auf Schwarze Menschen ausfällt ist ihrer Meinung nach zunächst unerheblich. „Rassismus ist nicht erst Rassismus, wenn er böse gemeint ist“. Dabei geht es auch um vermeintliche Komplimente, wenn Leute in ihre Haare fassen möchten, weil diese „anders“ sind. Das Aufstellen einer Norm (weißer Mensch ohne Kraushaar) wirkt auf Schwarze Menschen ausgrenzend. 1999 war ich mit einer blondhaarigen Freundin in Westafrika unterwegs. Viele Kinder sind vor ihr weggerannt, weil sie einen Menschen mit blonden Haaren noch nie gesehen haben. Wir haben das damals als lustig empfunden, gerade auch weil die Erwachsenen gelacht haben und die Situation dazu einlud, ins Gespräch zu kommen. Aber wenn tagtäglich Menschen vor mir eine solche Reaktion zeigen, kann ich die von Hasters erwähnten „Mückenstiche“ nachempfinden.

Wenn ich bisher gefragt wurde, warum ich so oft nach Afrika gefahren bin, habe ich meist geantwortet, der wunderschönen Natur aber auch der Menschen wegen. Ich habe bei den Schwarzen Menschen verallgemeinert: Coolness, Lebensfreue, Gelassenheit – das waren manche der Attribute, die ich mit den Menschen in Afrika assoziiert habe. Nach Hasters ist das auch eine Art Rassismus, den ich da an den Tag gelegt habe – was ich mittlerweile nachvollziehen kann. Schließlich wird nicht jeder Mensch Afrikas die genannten Attribute verkörpern.

Hasters geht auch auf die Argumentation ein, dass manche Menschen „keine Hautfarben sehen würden“. Sie ist der Auffassung, dass diese Leute nicht in der Lage sind, Rassismus zu erkennen. Spätestens da sind wir an dem Punkt angelangt, dass es notwendig ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Daher ist meiner Meinung neben Empathie auch Vertrauen notwendig. Vertrauen gegenüber Menschen, die sich rassistisch angegangen fühlen. Das machen diese Menschen nicht, um Aufmerksamkeit für sich zu erhaschen, sondern um auf eine Situation aufmerksam zu machen, die bei näherer Betrachtungsweise naheliegt. Diese Menschen haben ein Recht darauf, dass dieses Problem angegangen wird.

Attribute Menschengruppen generell zu verpassen kann auch Rassismus sein – jeder Mensch reagiert anders auf diese Verkehrssituation in Cotonou, Benin. Coolness, Gelassenheit etc. empfindet hier sicher jeder von uns anders.

Ein weiterer Punkt, den ich mir selbst in der Debatte anlasten muss, ist das N-Wort (wahlweise auch das Z-Wort in Bezug auf Sinti und Roma), das immer noch in der Kinderliteratur Verwendung findet. Selbst nie mit Rassismus konfrontiert habe ich mir über dieses nie wirklich Gedanken gemacht, bis ich von guten Freund*innen vor ein paar Jahren darauf hingewiesen wurde. Hasters reagiert auf das N-Wort ziemlich souverän, da sie sich in Menschen wie mich hineinversetzt, die sich damit bisher nicht auseinandergesetzt haben. „Es ist das eine, Rassismus zu reproduzieren, weil man ihn nicht erkennt. Es ist etwas anderes, Rassismus zu reproduzieren, weil man die Perspektiven anderer Menschen nicht anerkennt.“. Sobald man dies allerdings erkennt und sich dennoch nicht gegen die Streichung des N-Wortes einsetzt, handelt man rassistisch. Auch dieser Aspekt hat mir zu denken gegeben.

Wir Menschen neigen oft dazu, Sachen aufzuwiegen. Ich gehe gar auf „Whataboutism“ ein, sondern bleibe beim Rassismus. Man könnte schließlich der Meinung sein, als weißer Mensch in Afrika ebenfalls von Rassismus betroffen zu sein, wenn ich dort zum Beispiel mehr für den Bus bezahlen musste als die Einheimischen. Hasters erkennt hier eher die Privilegien, die ich als Weißer habe, der dort als reich und höhergestellt gilt. Sie erkennt an, dass diese Erfahrungen nicht unbedingt positiv sind – es wird mir als weißem Menschen aber tatsächlich nicht unterstellt, dass ich kriminell oder sonstwie bedrohlich sei. Das genannte Beispiel mit dem Bus kann ärgerlich sein, hat aber tatsächlich nichts mit Rassismus zu tun. Es ist eher die Folge des Rassismus, da durch die Ausbeutung der ehemaligen Kolonien durch die Weißen, die „Norm“ entstand, dass Weiße reich und Schwarze Menschen arm sind.

Ein Privileg von Weißen ist es Rassismus zu ignorieren. Hasters schreibt „Die Anerkennung meiner Perspektive ist kein Selbstverständnis, sie ist ein Kampf.“. Und dass Schweigen nichts bringt, wissen wir alle. Wenn rassistische Sätze fallen, dann sollten wir das auch äußern. Fangen wir damit im Bekanntenkreis an: in der Familie, auf der Arbeit, in der Kneipe und hoffentlich bald auch wieder im Stadion.

Es sei denn, es ist uns egal, wie wir Menschen miteinander umgehen. Dann hätte es aber auch nichts gebracht, diesen langen Text zu lesen. Einfach einmal sein eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen kostet kein Geld. Und zu versuchen, andere Menschen ausschließlich nach deren Denken und Handeln zu beurteilen auch nicht. Dieses Aufräumen im Kopf tut letzten Endes auch mir persönlich gut. In den letzten Jahrzehnten konnte ich mir auch ein Bild von Menschen aus der ehemaligen DDR machen, da ich glücklicherweise nach der Wende viele kennengelernt habe. Das pauschale Bild der DDR, das ich in meinem Kopf hatte, habe ich damit auch ersetzen können – durch einzelne Menschen, die ich nach ihrem Denken und Handeln beurteile.  

Quellen:

Rassismus – Grünen-Politikerin Touré: „Wir müssen Rassismus entlernen“ – Gesellschaft – SZ.de

Identitäten (7/7) – Warum weiße Menschen so gerne gleich sind – Deutschlandfunk

DZG2019 – Jenaer Erklärung – Deutsche Zoologische Gesellschaft e.V.