Wenn wir Mainzer*innen gefragt werden, was unsere Stadt bereits seit Jahrzehnten fast einzigartig in Deutschland macht, antworten die Jüngeren vielleicht das Marktfrühstück oder die Nullfünfer. Oder vielleicht die politisch-literarische Fassenacht?
Sehr wenige Mainzer*innen werden wahrscheinlich das Open Ohr nennen, das mittlerweile zum 45. Mal auf der Zitadelle stattfand. „Zu links, zu wenig bekannte Künstler*innen, zu politisch, zu viele komische Menschen“ – das waren und sind Dinge, die ich ab und zu höre, wenn es um das alljährlich an Pfingsten stattfindende Festival geht. Ich persönlich finde das sehr schade, denn natürlich leisten die Nullfünfer gute Arbeit und als Fan unterstütze ich den Verein gerne in den Bretzenheimer Feldern, am Bruchweg oder auch in Aserbaidschan, wenn Mainz mal wieder spielt. Genauso habe ich die Fastnacht fest ins Herz geschlossen und finde es immer wieder schön, einmal im Jahr montags uff die Gass‘ zu gehen, statt, wie der der Großteil des Landes, einfach wieder eine neue Arbeitswoche einzuläuten. Ein von der Stadt (zwischen)finanziertes, politisches und von einer freien Projektgruppe mit sehr viel Engagement vorbereitetes Festival, das seit Mitte der 1970er Jahre existiert, ist tatsächlich einzigartig für Deutschland.
1997 war für mich als Mainzer diesbezüglich ein sehr bedeutendes Jahr: Am Pfingstsonntag bin ich mittags erstmals zu einem Zweitligaspiel der Nullfünfer gegangen und nach dem Spiel ebenfalls zum ersten Mal zum Open Ohr – lustigerweise mit einigen meiner Freunde, mit denen ich mich 2019 auch wieder auf der Zitadelle traf (und im Stadion am Europakreisel vierzehntägig sowieso). Die bereits angesprochene freie Projektgruppe, die fast ein Jahr lang das Festival ehrenamtlich mit vielen hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Stadt vorbereitet, stellt das Festival jedes Jahr unter ein Motto. Um welches Motto es sich 1997 gehandelt hat, weiß ich heute nicht mehr. Ich fand es damals allerdings schon interessant, dass es drei Bühnen und mehrere Zelte gab, in denen nicht nur Musik, sondern Theater, Kabarett und Podiumsdiskussionen angeboten wurden.
Blieb ich beim ersten Mal nur einen Tag, änderte sich dies im Folgejahr und ich gab mir die nächsten Jahre die volle Dröhnung Open Ohr mit drei Nächten Zelten, wenig Schlaf, viel Feiern und jeder Menge Spaß. Bin ich an Pfingsten nicht am Reisen, wie 2003 auf meiner Weltreise oder 2007 mit dem Fahrrad in der Ukraine, dann ist das Open Ohr seither für mich ein fester Bestandteil meiner „Jahresplanung“ – und genauso wichtig wie Spiele der Nullfünfer oder die fünfte Jahreszeit.
Das diesjährige Motto „Partei ergreifen“ traf den Zeitgeist vollkommen. Der Niedergang der ehemaligen Volksparteien hatte sich schon im Sommer 2018 abgezeichnet und ist seit der Europawahl aktueller denn je. Sicherlich auch aus diesem Grund waren die Diskussionen und Foren gut besucht und glücklicherweise auch wieder mit Politiker*innen bestückt, die das Parteienspektrum von ziemlich weit links bis einen Tick weit rechts der Mitte gut abdecken. Das war leider nicht immer so und das war auch öfters ein Thema bei der Festivalkritik – denn beim Open Ohr dürfen die Besucher*innen ihre Meinung schon immer kundtun – Jahrzehnte bevor Social Media dies allgemein möglich machte. Die Projektgruppe nahm diesen Punkt auch immer wieder auf, entgegnete allerdings, dass es manchmal schwierig sei, Politker*innen rechts der SPD für einen Besuch zu gewinnen.
Und dennoch, ein Heiner Geißler hat es sich nicht nehmen lassen, das Open Ohr zu besuchen, genauso wie Julia Klöckner, die vor ein paar Jahren zu einer Diskussion rund um das Thema Heimat eingeladen wurde. Dieses Jahr waren auch wieder Vertreter*innen der CDU und der FDP bei unterschiedlichen Diskussionen mit an Bord. Daher fand ich die Diskussionen dieses Jahr auch weitaus spannender als in manchen Jahren zuvor, in denen sich alle Podiumsteilnehmer*innen ohnehin fast einer Meinung waren. Und besser als jede Talkshow waren diesen Foren allemal, nicht nur, weil man sich respektvoll begegnete, sondern die anderen auch ausreden ließ, sich sogar manchmal einem Argument der Gegenseite zumindest nicht komplett verschlossen hat.
Das Argument, das Wahlrecht auch für Menschen unter 18 Jahren einzuführen, da auch eine Meinungsfreiheit für Menschen ohne Meinung gilt, fand ich ziemlich überzeugend – und die Pauschalisierung, dass junge Menschen keine Ahnung von Politik haben, darf eh angezweifelt werden. Einer Jutta Ditfurth zu lauschen, die sowohl Grüne als auch die „Fridays for Future“ Bewegung ein wenig entzauberte (wer darf da genau sprechen, wer ist da medienkompatibel, wen kann man für die eigene Partei „verwerten“), bringen sicherlich viele der Besucher*innen zum Nachdenken. Ihre These, dass Minderheiten unser Land verändern, Stichwort Arbeiterbewegung und Frauenrechtlerinnen, fand ich einprägsam.
Aber nicht nur Politiker*innen standen Rede und Antwort. Die Berliner Rapperin Sookee krabbelte extra frühmorgens aus ihrem Bett in der Hauptstadt, um vor ihrem Konzert mit uns über Haltung auf der Bühne zu diskutieren. Denn aus dem anfänglichen Interview wurde, wie auf dem Open Ohr üblich, eine Diskussion mit dem Publikum. Dafür stehen immer Mikrofone vor den Bühnen bereit und häufig beleuchten die Zuhörer*innen Punkte, die zuvor nicht angesprochen wurden. Für die Queerfeministin gibt es beim Thema Kunst und Haltung keine zwei Meinungen. Sie ist der Auffassung, dass Künstler*innen ja von der Öffentlichkeit profitieren. Daher hat die Öffentlichkeit auch ein Recht zu erfahren, welche Haltung Künstler*innen einnehmen. Manchmal urteilen Aktivist*innen ja in ziemlicher Schwarz-Weiß-Marnier in „Gute“ und „Schlechte“ – anders Sookee, die z.B. Sarah Connor, die ja bisher nicht gerade als politische Aktivistin galt, für ihr Lied „Vincent“ ausdrücklich lobte. Darauf angesprochen, auch mal etwas trivialere Songs zu rappen, um eine breitere Masse zu erreichen, entgegnete Sookee, dass das schon eine gewisse „Vergeudung von Atem“ sei – dementsprechend hat sie in der von Männern dominierten Welt des Sprechgesangs auch ein schwieriges Standing. Vor der Kraft, die Menschen wie Sookee und Ditfurth aufbringen, dauerhaft unangepasst in unserem Land für Minderheitenmeinungen Partei zu ergreifen, kann ich nur den Hut ziehen.
Natürlich werden solche Menschen permanent in den Sozialen Netzwerken dafür kritisiert und mit Hass und Häme überzogen. Für Ditfurth bietet Social Media dennoch mehr Chance als Bedrohung. Sie kann hier ihre Thesen ihrem Publikum rüberbringen. Wofür früher wohlwollende Journalist*innen notwendig waren, ist es heute nur eine funktionierende Internetverbindung, (was in Deutschland allerdings auch manchmal eine Herausforderung darstellt). Die Kabarettistin Sarah Bosetti hat die schlimmsten Beschimpfungen gesammelt und daraus lyrische Werke erstellt – ein sehr souveräner Umgang mit völlig niveaulosen Schmähungen. Ihre Anekdoten über das Scheitern, am Pfingstmontag vorgetragen, greifen das Thema genauso kreativ auf, wie es Nico Semsrott sicher die nächsten fünf Jahre in Brüssel und Straßburg rüberbringen wird. Eben jener Semsrott hatte im letzten Jahr das große Zelt zum Platzen gebracht, an einem heißen Pfingstmontag-Mittag.
Der Tag auf der Zitadelle fängt allerdings schon viel früher an. Mit Frühsport zum Beispiel – und der Möglichkeit, Vorurteile zu revidieren. Letztes Jahr machten wir uns um kurz vor zehn zum Beispiel auf, um mal eine Zumba-Session mitzumachen. Dass das alles andere als ein sinnbefreites Herumgehüpfe ist, stand bei mir schon nach ein paar Minuten fest, als ich völlig außer Atem gewesen war. Letztes wie dieses Jahr gab es auch Yoga, Tanz und dieses Jahr Qi Gong aus Tibet. Es bringt mich immer wieder zum Schmunzeln, wenn Meditierende auf Mitmenschen treffen, die gerade ihr erstes Stubbi am Morgen öffnen. Denn auch fast einzigartig: Die Besucher*innen dürfen unbegrenzt Wasser mitbringen, das es auch zum Auffüllen unterhalb des Drusussteins gibt. Außerdem können sie bis zu einem Liter an Limo, Bier oder Wein auch in Glasflaschen (!) mit hineinnehmen.
Dazu sind die Getränkepreise extrem fair, wenn man die Preise kennt, die bei anderen Festivals aufgerufen werden. Die Speisen sind im Vergleich zu den Vorjahren ein wenig teurer geworden, dafür wurde endlich durchgängig auf Plastikbesteck und -teller verzichtet. Überhaupt sind die Eintrittspreise sehr fair und familienfreundlich. Kinder unter 14 Jahren zahlen nichts und ein eigenes Kinderprogramm sorgt dafür, dass auch die jüngeren Besucher*innen auf ihre Kosten kommen. Die schiere Menge an Kinderwagen und Buggys zeigte, dass das Angebot auch angenommen wurde. Wie beim Auto geht es beim Kinderwagen aber in Richtung „SUV“ – vielleicht sollten nächstes Jahr tatsächlich mal Parkplätze für diese Gefährte eingeführt werden – schließlich sollten auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität noch etwas vom Festival mitbekommen und nicht von Buggys umzingelt werden – gerade auf den Wallanlagen am Drususstein. Aber zurück zur Preisgestaltung: Es gibt ein Sozialticket und wenn man 0,10 Euro pro Tag ein Jahr zurücklegt, dann hat man auch als Geringverdiener*in das Viertagesticket schon gelöst. Sehr transparent wird auch die Verwendung der Eintrittsgelder im Programmheft dargestellt. Der größte Teil geht mit 25 % für die Veranstaltungstechnik drauf. Da das Festival seit Jahren sehr friedlich abläuft, muss glücklicherweise für Security recht wenig Geld aufgewendet werden. So bleiben am Ende ca. 17 Prozent des Eintrittspreises für die Künstler*innen übrig.
Seit Jahren verpflichtet die freie Projektgruppe keine musikalischen Top Acts mehr, sondern eher Bands, die einem Massenpublikum wahrscheinlich unbekannt sind. Dadurch dass viele Genres in den vier Tagen abgedeckt werden, kommen wohl die meisten von uns auf ihre Kosten. Genauso wie man sich mal morgens auf Yoga oder Zumba einlassen kann, ist es doch auch extrem spannend, sich im Laufe des Tages auf unbekannte Bands, Theatergruppen und Kabarettistinnen und Kabarettisten zu freuen. So entsteht eine künstlerische Reise durch die ganze Welt. Das Schöne am Open Ohr ist zudem die Tatsache, dass man, mangels Publikumsmagneten, bei den meisten Konzerten auch auf der Wiese sitzen bleiben und gemütlich der Musik lauschen kann, ohne Angst haben zu müssen, plattgetrampelt zu werden.
Alles in allem waren es mal wieder eine wunderschöne Zeit auf der Zitadelle mitten in der Stadt. Ein ganz klein bisschen zähle ich schon die Tage bis zum nächsten Pfingstfest. Doch davor geht es erstmal wieder ins Stadion und zur Straßenfassenacht im schönen Mainz am Rhein.